Der stellvertretende Beigeordnete Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung der NATONorth Atlantic Treaty Organization, Generalmajor Jörg See, hat Deutschlands Engagement an der Ostflanke gewürdigt. Als wirtschaftlich starke Nation im Herzen Europas stelle sich Deutschland seiner Verantwortung, so See im Interview der Redaktion der Bundeswehr.
Herr General, der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Gipfel in Vilnius liegt vor uns. Wird dies ein Gipfel wie jeder andere sein oder erwarten Sie ein besonderes Treffen?
Ein solches Treffen hat immer einen eigenen Charakter. Vilnius wird ein besonderer Gipfel. Er findet in Zeiten des russischen Überfalls auf die Ukraine statt. Die NATONorth Atlantic Treaty Organization muss in Vilnius vieles umsetzen, was vor einem Jahr beim Gipfel in Madrid beschlossen wurde. Was die Implementierung angeht, so wird Vilnius ein Meilenstein sein. Der Gipfel von Vilnius ist aber damit nicht das Ende unserer Anstrengungen zur weiteren Stärkung unserer Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit. Die Alliierten werden weit über den Gipfel hinaus mit der Umsetzung dieses so wichtigen Meilensteins gefordert sein. Es wird des Weiteren auch deshalb ein besonderer Gipfel sein, weil er in Litauen stattfindet. Gerade Litauen misst diesem Treffen zu dieser Zeit und zu diesen Themen eine sehr hohe Bedeutung zu.
Um welche Entscheidungen geht es konkret?
Es geht natürlich um die Fortsetzung und Steigerung der Unterstützung der Ukraine. Der Generalsekretär sagt es glasklar: „For as long as it takes.“ Die NATONorth Atlantic Treaty Organization wird parallel dazu ihre Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeiten weiter stärken. Darüber hinaus will sich die Allianz in Vilnius auf ein neues Defence Investment Pledge (Zusage zu Investitionen im Verteidigungsbereich) verständigen. Dies ist wichtig. Und aus Sicht der NATONorth Atlantic Treaty Organization müssen die Alliierten zukünftig mindestens zwei Prozent für unsere gemeinsame Sicherheit ausgeben. Nur mit dieser notwendigen Hinterlegung mit Finanzmitteln kann die Stärkung unserer Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit erfolgreich gelingen. Es gilt: „Cash underpins everything.“ Insofern hat der Gipfel von Vilnius an sich schon große Themen.
Was gibt es für Ihre Arbeitseinheit im NATONorth Atlantic Treaty Organization-Hauptquartier vor so einem Gipfel alles zu tun?
Wenn ich die eben genannten Inhalte auf die Abteilung herunterbreche, in der ich arbeiten darf, decken wir einen sehr großen Bereich davon ab. Alles, was in den Bereich Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit sowie Abschreckungs- und Verteidigungspolitik fällt, wird in dieser Abteilung im NATONorth Atlantic Treaty Organization-Hauptquartier federführend für NATONorth Atlantic Treaty Organization-Generalsekretär Jens Stoltenberg vorbereitet.
Zum Beispiel?
Der Supreme Allied Commander Europe (SACEURSupreme Allied Commander Europe) hat, basierend auf den Beschlüssen von Madrid, nun ein Paket vorgelegt. Darin geht es um Pläne, um Command und Control, und um die Gestaltung der Streitkräfte der Zukunft. Vor dem Hintergrund dieser Anforderungen werden die folgenden Wochen in unserer Abteilung von Aufgaben rund um die Arbeit im Defence Policy and Planning Committee geprägt sein. Das ist jenes Committee, welches auf der Basis dessen, was an Dokumenten hereinkommt, zunächst einen militärischen Ratschlag erhält. Dieser Rat geht von unseren Kameradinnen und Kameraden im internationalen Militärstab der NATONorth Atlantic Treaty Organization aus. Es ist unsere Ambition, die Leitlinien des Madrider NATONorth Atlantic Treaty Organization-Gipfels auch aus militärpolitischer Sicht für die Entscheidungen der Verteidigungsminister vorzubereiten und einzuordnen. Das bedeutet zum Beispiel: mehr Readiness. Auch hier schließt sich der Kreis wieder, diese notwendige Erhöhung der Readiness wird Geld kosten. Daher brauchen wir auch die Festlegung der Verteidigungsausgaben aller Alliierten auf mindestens zwei Prozent. Inhalte wie diesen gilt es dann im Konsens mit den Nationen abzustimmen.
Es geht also besonders um Konsens?
Ich betone den Konsens ganz bewusst, weil es natürlich – und das weiß jeder – zu vielen Details auch unterschiedliche Vorstellungen bei verschiedenen Alliierten gibt. Am Ende des Tages zählt aber: Was in Madrid entschieden worden ist, ist entschieden worden. Vilnius wird wesentlich dafür sein, diese Entscheidungen weiter auf den Weg zu bringen. Das bedeutet, es gilt jetzt Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Wir versuchen dazu den politischen Konsens herbeizuführen, der dann von den NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verteidigungsministern angenommen und an die Staats- und Regierungschefs weitergegeben wird. Damit können wir erneut Einigkeit, ein politisches Momentum und die Festlegung auf weitere Schritte hin zu einer noch stärkeren NATONorth Atlantic Treaty Organization erzielen.
Wie sehen Sie den Verlauf der Diskussion im Hinblick auf die anstehende Entscheidung beim NATONorth Atlantic Treaty Organization-Gipfel in Vilnius über das Thema Defence Investment Pledge (Zusage zu Investitionen im Verteidigungsbereich)?
Beim Thema Defence Investment Pledge lohnt ein kurzer Rückblick. Die Entscheidung dafür wurde auf dem NATONorth Atlantic Treaty Organization-Gipfel von Wales im Jahre 2014 getroffen. Damals haben sich die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Partner verständigt, bis 2024 daraufhin zu arbeiten, zwei Prozent ihres Bruttoinlandproduktes für Verteidigung auszugeben – und von diesen zwei Prozent 20 Prozent für Investitionen. Nächstes Jahr haben wir 2024. Die Agenda, die sich die Allianz gegeben hat, ist eine ausgesprochen ambitionierte. Diese, ich habe es angesprochen, bedarf der ausreichenden finanziellen Hinterlegung, das heißt aus Sicht der NATONorth Atlantic Treaty Organization mindestens zwei Prozent. All das vollzieht sich in einem grundlegend veränderten sicherheitspolitischen Umfeld. Es gilt, in vielen Bereichen eine jahrelange, zuweilen jahrzehntelange Unterfinanzierung auszugleichen. Auch gilt es, die Streitkräfte zukunftsfähig zu machen und gleichzeitig militärische Fähigkeiten bereitzustellen, auf die man sich längst verständigt hatte.
Was bedeutet das aus Ihrer militärischen Sicht?
Das heißt aus militärischer Sicht: Allein das Vorhaben, mehr Kräfte mit höherer Readiness schneller zur Verfügung haben zu wollen, kostet schon eine ganze Menge. Wenn die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Nationen dem Supreme Allied Commander Europe (SACEURSupreme Allied Commander Europe) diese Kräfte zur Verfügung stellen wollen, erfordert das natürlich große Schritte bei der Fähigkeitsentwicklung. Da geht es um den Kauf von Plattformen, aber dabei geht es auch um Personal, Ausbildung und Übung. All das muss zusammenkommen. Angesichts dieser Herausforderungen wissen wir, dass viele Nationen noch mehr für Verteidigung ausgeben müssen, auch wenn sie seit 2014 im achten Jahr in Folge bereits mehr für Verteidigung ausgegeben haben. Aus Sicht der NATONorth Atlantic Treaty Organization müssen wir sagen: Auch wenn bereits Enormes geleistet wurde – es reicht noch nicht. Dabei ist eine langfristig verlässliche finanzielle Verfügbarkeit der Mittel ein wichtiger Aspekt. Sie ist die Grundlage dafür, mit der Industrie Verträge zu schließen, die eine rasche, langfristige sowie an Prioritäten ausgerichtete Produktion ermöglichen. Dies alles in der Zusammenschau zu sehen, wird die große Bedeutung des NATONorth Atlantic Treaty Organization-Gipfels von Vilnius ausmachen. Es gilt einen politischen Rahmen zu setzen, der das ermöglicht.
Nehmen Sie es auch so wahr, dass die Zahl der Bürgerinnen und Bürger zugenommen hat, die aufgrund der angespannten Sicherheitslage in Europa höhere Investitionen in Verteidigung befürworten?
Ja! Klar ist, dass spätestens seit der Krim-Krise 2014 und erst recht durch den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 die öffentliche Aufmerksamkeit für Sicherheit und Verteidigung enorm zugenommen hat. Seitdem ist die Welt nicht mehr, wie sie war. Das Strategische Konzept der NATONorth Atlantic Treaty Organization enthält den Satz: „Der euroatlantische Raum befindet sich nicht im Frieden.“ Das ist ein Satz, auf den sich die Staats- und Regierungschefs geeinigt haben. Dazu kann ich aus der Erfahrung von über 35 Jahren Dienstzeit sagen: Das habe ich lange so nicht mehr gehört. Er beschreibt schlicht unsere sicherheitspolitische Realität. Nun gilt es, die Antworten zu geben.
Was bedeutet das?
Der Zeitpunkt, etwas zu ändern, ist jetzt. Das wissen auch die Bürgerinnen und Bürger. Die Bereitschaft und das Verständnis der Menschen für mehr militärische Sicherheit und Verteidigung sowie Zivilschutz bis hin zu Aspekten der Energiesicherheit ist so groß wie nie zuvor. Das ist in Deutschland und in den Ländern unserer Partner so. Die Leute wissen, Prosperität und Wohlstand sind ohne Frieden nicht zu haben – und Frieden gibt es nicht ohne Sicherheit. Das ist das Kerngeschäft der NATONorth Atlantic Treaty Organization. Somit stehen auch in unserer Abteilung die Themen Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit ganz oben an.
Welche Rolle spielt in Zeiten, in denen sich die Sicherheitsarchitektur in Europa so dramatisch verändert, der Aspekt Capability Development (Fähigkeitsentwicklung)?
Die Bedeutung ist größer denn je. Spätestens der Überfall Russlands auf die Ukraine hat den Kernauftrag der NATONorth Atlantic Treaty Organization deutlich wie lange nicht werden lassen. Wir sprechen jetzt über kollektive Verteidigung, anders als in den Jahrzehnten zuvor, in denen wir in Afghanistan und anderswo waren. Da ging es um Krisenmanagement. Wir konnten unsere Ressourcen fokussieren. Wir waren gewohnt zu entscheiden, was wir wann tun wollten. Heute, mit der Refokussierung auf kollektive Verteidigung, ist das anders. Wir und unsere Verbündeten müssen jederzeit bereit sein, unsere Bevölkerungen zu schützen und unsere Sicherheit, unsere Freiheit zu verteidigen.
Was heißt das?
Die Zeiten sind vorbei, in denen wir Kräfte vorhalten konnten, um sie dann gegebenenfalls in eine höhere Verfügbarkeit zu bringen. Heute muss die NATONorth Atlantic Treaty Organization die Kräfte sofort verfügbar haben. Ich möchte vorsichtig formulieren: Wir sind in gewisser Weise zurück in Zeiten, die wir den „Kalten Krieg“ nannten, aber das ist nicht einfach ein neuer Kalter Krieg. Es ist vielmehr ein völlig neues Szenario, komplex und kompliziert sowie sich rasch ändernd. Wir leben heute in einer anderen, einer vernetzten Welt. Deshalb hat die NATONorth Atlantic Treaty Organization neue Leitlinien für ihre Fähigkeitsentwicklung verabschiedet: Die besagen erstens, dass wir das, was SACEURSupreme Allied Commander Europe operationell braucht, enger mit dem zu verschmelzen, was die Industrie entwickeln und produzieren soll. Es bedarf weiterer moderner Fähigkeiten, ohne auch den Aspekt „Menge und Verfügbarkeit“ aus den Augen zu verlieren. Diese Anforderungen müssen zweitens in den nationalen Systemen rasch und zielgerichtet umgesetzt werden. Und das verlangt drittens von allen NATONorth Atlantic Treaty Organization-Partnern die Bereitschaft zur Priorisierung von Sicherheit und Verteidigung in ihren Haushalten.
Das deutsche Engagement an der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ostflanke nimmt stetig zu. Welche Herausforderungen bringt das für Sie hier im NATONorth Atlantic Treaty Organization-Hauptquartier mit sich?
Der Auftrag der Abteilung ist es, mit einem „Rundumblick“ von 360 Grad die Aufstellung der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Kräfte, wir nennen das „Posture“, im Blick zu haben. Wir achten darauf, dass das gesamte System aller NATONorth Atlantic Treaty Organization-Partner funktioniert. Ich sage aber auch, dass insbesondere der deutsche Beitrag für die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ostflanke hier im NATONorth Atlantic Treaty Organization-Hauptquartier sehr wohl zur Kenntnis genommen und anerkannt wird. Er wird auch erwartet. Er ist Teil eines Gesamtpaketes. Deutschland hat bei der Weiterentwicklung dieses Paketes einen wesentlichen Anteil. Als wirtschaftlich starke Nation im Herzen Europas stellt sich Deutschland seiner Verantwortung.
Welchen Stellenwert haben aus Ihrem Blickwinkel betrachtet in diesen Zeiten die Zusammenarbeitsbeziehungen mit der Europäischen Union, konkret der Europäischen Verteidigung?
Einen großen Stellenwert! Die Zusammenarbeit von NATONorth Atlantic Treaty Organization und Europäischer Union in zivil-militärischen Fragen ist in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden. Auch wenn NATONorth Atlantic Treaty Organization und Europäische Union zwei grundsätzlich unterschiedliche Organisationen sind. Der russische Überfall auf die Ukraine hat beiden vor Augen geführt, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen NATONorth Atlantic Treaty Organization und Europäischer Union ist. Beide schauen auf ihre Fähigkeiten und Stärken und wenden diese an. Was den Umgang mit Russland angeht, kann die NATONorth Atlantic Treaty Organization in der Kooperation mit der Europäischen Union ihren militärischen Beitrag leisten. In anderen Teilen dieses Themenfelds, etwa bei den Sanktionen gegen Russland, ist die Europäische Union gefordert. Jeder trägt seinen Teil bei. Das bedeutet, NATONorth Atlantic Treaty Organization und Europäische Union sind komplementär aufeinander abgestimmt. Dabei ist die Wahrung von Partikularinteressen nicht zielführend, sondern es geht um das große Ganze. Das setzt einen intensiven Dialog auf allen Ebenen voraus – und der wird auch geführt.
Welche Einflüsse auf Ihre Arbeit haben der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Beitritt Finnlands und voraussichtlich auch der Beitritt Schwedens – welche Herausforderungen bringen diese Entwicklungen mit sich?
Wir freuen uns alle, dass Finnland jetzt Mitglied der NATONorth Atlantic Treaty Organization ist. Wir sind sehr zuversichtlich, dass dies auch mit Schweden bald gelingen wird. Der Blick auf die Landkarte macht deutlich, dass damit der gesamte skandinavisch-nordisch-baltische Raum NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verantwortungsbereich sein wird. Das bedeutet eine komplette Änderung der Situation in dieser Region gegenüber Russland. Das bedeutet mehr Sicherheit für den euroatlantischen Raum, insbesondere für das Baltikum.
Was bringen Finnland und Schweden mit?
Starke Fähigkeiten und gemeinsame Werte! Finnland und Schweden sind langjährige und beste Partner. Sie haben intensiv mit der Allianz kooperiert. Damit sind die beiden Armeen in vielen Bereichen bereits interoperabel, standardisiert und NATONorth Atlantic Treaty Organization-kompatibel.
Und die Herausforderungen?
Alle Seiten sind sich der Herausforderungen der kollektiven Verteidigung bewusst. Dafür laufen allerdings schon lange die Vorbereitungen. Dabei sind Finnland und Schweden von Anfang an hoch engagiert gewesen. Deshalb bin ich überzeugt, dass alle gemeinsam diese Herausforderungen schaffen. Es macht jedenfalls Freude, Finnland an Bord zu haben – und Schweden wird sicher auch bald dabei sein. Für uns alle ein Gewinn an Sicherheit als Grundlage für Frieden und Freiheit.
Vita Generalmajor Jörg See |
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Generalmajor Dipl.-Pol. Jörg See ist seit Mai 2019 als stellvertretender Beigeordneter Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung im Hauptquartier der NATONorth Atlantic Treaty Organization in Brüssel tätig. Internationale und operative Erfahrung sammelte er unter anderem als Dezernatsleiter für Operationen und Einsätze im Stab des Deutschen Militärischen Vertreters im Militärausschuss der NATONorth Atlantic Treaty Organization und bei der Europäischen Union in Brüssel sowie in Auslandseinsätzen der Bundeswehr als Adjutant des Kommandeurs KFORKosovo Force im Kosovo und als Stabsoffizier für Planung im ISAFInternational Security Assistance Force-Hauptquartier in Afghanistan. Im Bundesministerium der Verteidigung diente er unter anderem als stellvertretender Adjutant der Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg (02.2010 – 03.2011) und Thomas de Maizière (03.2011 – 04.2012) und in der Folge in der Abteilung Politik als Referatsleiter für NATONorth Atlantic Treaty Organization-Angelegenheiten sowie in der Abteilung Personal als Referatsleiter für die Personalentwicklung des militärischen Spitzenpersonals. Vor seiner derzeitigen Verwendung war er Kommandeur der Panzerbrigade 12. |
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