Anlässlich des ersten Workshops zur Überarbeitung des Traditionserlasses am 18. August an der Führungsakademie hat die Redaktion der Bundeswehr Teilnehmer zur aktuellen Debatte um die Traditionslinien der Bundeswehr befragt.
Tradition hilft dabei, Identifikation und Gemeinschaft zu stiften sowie Orientierung zu bieten. Dabei ist Tradition nichts Statisches: Sie entsteht zwar aus der Vergangenheit heraus, ist aber auf die Zukunft gerichtet. Sie soll schließlich handlungsanleitend sein.
Wichtig finde ich vor allem die Frage, wie Tradition vermittelt werden kann. Wie schaffen wir es, dass Menschen sich damit identifizieren? Doch nur, wenn sie für den Einzelnen relevant ist. Wenn sie ihm hilft, Entscheidungen zu treffen. Und wenn sie dazu beiträgt, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Insofern macht es für mich auch keinen Unterschied, ob ich mich als Zivilistin oder Soldatin an dieser Debatte beteilige.
Es ist sinnvoll, dass wir sie führen und es ist gut, dass wir sie breit auch mit der Gesellschaft führen. Denn Tradition trägt zum Selbstverständnis der Bundeswehr bei. Und wenn man sich mal die Aufgaben der Bundeswehr anschaut, dann gehen die alle etwas an. Dazu kommt, dass Soldaten bereit sind, im Einsatz Leib und Leben zu geben. Da halte ich ein zunehmendes Verständnis der Gesellschaft für die Bundeswehr für wichtig.
Die Debatte ist auch deswegen nötig, weil sich die Bundeswehr seit 1982 - dem Entstehungsjahr des derzeitigen Traditionserlasses - stark verändert hat. Wir sollten diskutieren, welche Erfahrungen aus den vergangenen Jahrzehnten Eingang in unser Traditionsverständnis finden sollten und welche nicht. Seit 1982 sind 35 Jahre vergangen - das ist eine ganze Generation. Es ist wichtig, dass sich auch die junge Generation mit der Tradition identifizieren kann. Schließlich dienen in der Bundeswehr viele junge Menschen, und es sollen weitere hinzugewonnen werden. Deswegen ist es hilfreich, wenn sich Tradition auch aus ihren Erfahrungen gründet und bestehende Traditionen vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen reflektiert werden.
Ich finde es interessant, wie andere Nationen ihre Tradition pflegen. Der niederländische General Ton von Loon hat in seinem Vortrag gezeigt, wie man mit historischen Widersprüchen umgehen kann - etwa mit dem schwierigen Erbe der Niederländer in Bezug auf ihre Kolonialgeschichte. Zudem kann es ein Element unserer Tradition werden, die Verbundenheit mit anderen Armeen und die Gemeinsamkeiten verbindende Elemente aus gemeinsamen Erlebnissen mit ihnen stärker in den Fokus zu rücken.
Traditionsbewusstsein und -pflege sind essentiell für die Bundeswehr. Wir sind schließlich kein neu gegründetes Startup. Wichtig ist mir, Tradition gerade für unsere jungen Soldaten begreifbar und erlebbar zu machen. Die Werte unserer Tradition gilt es daher mit Persönlichkeiten und Ereignissen aus unserer Geschichte mit Herz und Seele zu vermitteln - am besten in „Bildern“, die sich einprägen. Und das kann bei längst vergangenen Schlachten genauso möglich sein wie jüngeren Ereignissen in Afghanistan.
Tradition ist für mich Teil meines ethischen Wertefundamentes als Soldat und damit Staatsbürger in Uniform, aber auch als Christ und überzeugter Europäer. In einem Land, in dem Freiheit und Verantwortung für die Würde des Menschen in der Verfassung als höchstes Gut festgeschrieben sind.
Es ist gut, diese Debatte zu führen. Denn Tradition ist nie etwas Statisches. Sie erfordert immer wieder kritische Auseinandersetzung und Reflexion. Und als Seemann weiß ich, wie wichtig es ist, seinen Standort immer wieder so genau wie möglich zu bestimmen. Dafür nutzen wir auf See Peilobjekte an Land - am besten drei, denn zwei Peillinien schneiden sich immer genauen ich einem Punkt. Diese dritte Peillinie im Sinne unserer Diskussion ist unsere eigene Geschichte, die der Bundeswehr als von Beginn an angelegte Streitkräfte im Bündnis - Seite an Seite mit unseren Partnern und Verbündeten. Hier gibt es noch eine Menge zu tun.
In meinen Augen wird die Debatte aktuell leider teils zu unsachlich oder auch zu emotional geführt, etwa wenn nur auf Teilaspekte unserer soldatischen Profession fokussiert wird. Kämpfen und Helfen, das ist kein “Entweder oder”, sondern ein “Sowohl als auch”. Deswegen brauchen wir ein Traditionsverständnis, das für alle gilt. Denn unseren Auftrag können wir nur gemeinsam erfüllen.
Diese Debatte wird auch nie endgültig abgeschlossen sein. Zur guten Seemannschaft gehört es, ständig seinen Standort zu überprüfen- in diesem Sinne wird auch jede Generation immer wieder für sich in der eigenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Antworten auf die Fragen von morgen finden müssen.
Es ist ganz deutlich geworden, dass wir am Beginn einer Standortbestimmung stehen. Und ich war beeindruckt von der Offenheit aller Teilnehmer über alle Dienstgrade und Funktionen hinweg. Die Schlussfolgerungen sollten wir vor allem nicht im Sinne einer rückwärtsgewandt Aufarbeitung führen, sondern mit Blick in die Zukunft. Dabei werden gelebte Multinationalität, ein zusammenwachsendes Europa und Die Frage, welche Werte wir wie tradieren wollen, mit Sicherheit eine große Rolle spielen.
Ich denke bei Tradition auch an Familientradition, wenn es etwa darum geht, Werte aus der Vergangenheit zu übertragen. Das können menschliche Tugenden sein, wie man sich anderen gegenüber verhält. Aber es gibt natürlich auch Tradition im dienstlichen Bereich, und diese orientiert sich an den Werten des Grundgesetzes und des Soldatengesetzes. Das ist unverrückbar, da gibt es keinen Spielraum. Die Frage ist: Wie lassen sich diese Werte vermitteln?
Der Traditionserlass von 1982 hat seinen Fokus auf der Abgrenzung zur Wehrmacht. Wenn wir hier ergänzend stärker die Geschichte der Bundeswehr und die unserer Demokratie einbeziehen, ist es sicher hilfreich.
Ich halte die Debatte für längst überfällig. Wir haben ein Vakuum in Bezug auf Sinnstiftung. Seit einiger Zeit bereits gibt es die Debatte, ob militärisches Handeln nicht auch zweckfrei betrachtet werden könne. Die Argumentation ist dann, dass die globale sicherheitspolitische Lage so komplex sei, dass viele sie nicht verstünden und man sich deswegen die Mühe sparen könne, Zusammenhänge zu erklären. Davon halte ich gar nichts. Man muss immer wieder erklären, warum wir in die Einsätze gehen - das gehört zu den Aufgaben eines militärischen Führers einfach dazu. Sie erklären doch auch jedem Neuen, wie er ein Maschinengewehr auseinanderbaut.
Mir ist nochmal deutlich geworden, wie wichtig es ist, Tradition zielgruppengerecht zu vermitteln. Dass es für Lehrgangsteilnehmer des Generalstabs andere Formen braucht als für Feldwebel-Lehrgänge. Individuelle Konzepte zu erstellen macht natürlich mehr Arbeit, ist aber wichtig, um die Botschaft rüberzubringen. Mir ist auch klarer geworden, dass wir den Verbänden, etwa auf Kompanie-Ebene, mehr Freiheit dabei lassen sollten, eigene Formen der Traditionspflege zu entwickeln und dabei auch Vorschriften großzügiger auslegen oder fassen müssen. Wenn etwa Truppenfahnen bestimmte Bänder bekommen oder Gefallenen in Einsätzen mit internationaler Beteiligung mit bestimmten Gedenkformaten gedacht wird - etwa dem Missing-Man-Flugmanöver, bei dem ein Flugzeug ausschert - dann spricht da in meinen Augen nichts dagegen.
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