Tagesbefehl anlässlich der Zeichnung der überarbeiteten Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege (Traditionserlass)
Soldatinnen und Soldaten, zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!
Ich habe heute unseren neuen Traditionserlass gezeichnet. Der letzte stammte aus dem Jahr 1982. Deutschland war geteilt, unsere Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt durch die Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion. Die Bundeswehr war noch eine Wehrpflichtarmee, fokussiert auf die Landesverteidigung gegen die Armeen des Warschauer Paktes. Der alte Traditionserlass wusste noch nichts von der Armee der Einheit und von der Armee im Einsatz. Er wusste noch nichts vom Kampf gegen heutige Terrormilizen, die mit brutaler Gewalt Schreckensherrschaften errichten, von hybriden Bedrohungen, von Auseinandersetzungen im Cyber- und Informationsraum.
Es war daher überfällig, dass wir uns wieder einmal ganz grundlegend mit den Fragen beschäftigen: Was macht uns eigentlich aus? Was können wir aus der Geschichte für das Heute lernen? Was gibt unserem Handeln Sinn? Gerade weil sich die Herausforderungen heute so schnell verändern, brauchen wir ein gemeinsames Verständnis von unserer Vergangenheit. Wir müssen uns immer wieder selbst vergewissern, auf welchem Grund wir stehen.
Daher waren uns bei der Erarbeitung des neuen Traditionserlasses zwei Aspekte besonders wichtig:
Erstens wollten wir die deutsche Militärgeschichte in ihrer ganzen Breite in den Blick nehmen, aus ihr schöpfen, bewerten, was daraus für uns heute vorbildlich und sinnstiftend ist. Denn natürlich gab es zu allen Zeiten herausragende soldatische Persönlichkeiten, außergewöhnliches soldatisches Handeln. Militärische Exzellenz allein genügt jedoch nicht. Sie mag als praktisches Beispiel für Lehre und Ausbildung dienen. Tradition ist aber mehr. Wir sind die Streitkräfte einer gereiften, weltweit geachteten Demokratie. Sinn- und traditionsstiftend für unsere Bundeswehr, die freiheitlichen und demokratischen Zielsetzungen verpflichtet ist, kann daher nur ein soldatisches Selbstverständnis sein, das auf dem Wertefundament unseres Grundgesetzes ruht.
Praktisch bedeutet dieser Wertebezug, dass etwa die Wehrmacht als Institution grundsätzlich nicht zu unserem Traditionskanon gehören kann, weil sie das Werkzeug eines verbrecherischen Regimes war. Dieser Maßstab unserer Werte gilt auch für die Nationale Volksarmee und schließt sie daher ebenfalls als traditionsstiftende Institution aus. Gleichwohl können aber einzelne Angehörige beider Armeen durchaus traditionswürdige Vorbilder für die Soldatinnen und Soldaten der modernen Bundeswehr sein. Es kommt auf die einzelne Person an, und wir müssen immer sorgfältig abwägen. Dabei stellt sich auch die Frage nach persönlicher Schuld. Die Aufnahme in unser Traditionsgut erfordert in solchen Fällen zudem eine Leistung, die vorbildlich und sinnstiftend in die heutige Bundeswehr wirkt. Etwa die Beteiligung am militärischen Widerstand gegen das NSNationalsozialismus-Regime oder besondere Verdienste um den Aufbau der Bundeswehr oder die Auflehnung gegen die SED-Herrschaft oder besondere Verdienste um die Deutsche Einheit.
Zweiter Schwerpunkt des neuen Erlasses ist, dass er die eigene über 60-jährige, reiche Geschichte der Bundeswehr in den Mittelpunkt unserer Erinnerungskultur stellt. Sie wird zum zentralen Bezugspunkt unserer Tradition. Eine Geschichte, die von einer Bundeswehr berichtet, die an der Seite ihrer Partner im Kalten Krieg Freiheit und Frieden wahrte, die einen vorbildlichen Beitrag zur Verwirklichung der Deutschen Einheit leistete, die seit einem Vierteljahrhundert zum internationalen Krisenmanagement beiträgt, und sich dabei in multinationalen Einsätzen und auch im harten Gefecht bewährte, deren Soldaten immer wieder aufs Neue Mut, Tapferkeit und ihre Bereitschaft bewiesen, auch mit dem höchsten Gut für ihren Auftrag einzustehen, die für die Menschen in unserem Land da ist, wenn sie gebraucht wird, die seit mehr als sechs Jahrzehnten einsteht für Recht und Freiheit unseres Landes. Auf diese Geschichte darf die Bundeswehr unendlich stolz sein!
Der überarbeitete Erlass soll Klarheit geben über unser Verständnis von Tradition und mehr Handlungssicherheit in der praktischen Traditionspflege. Ich danke allen, die sich in den vergangenen Monaten an der Überarbeitung der Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege beteiligt haben. Ihr Engagement steht selbst für eine gute Tradition der Bundeswehr. Der neue Traditionserlass setzt nur einen Rahmen für die Traditionspflege in der Bundeswehr. Er gewährt bewusst Freiräume. Ich fordere die Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche, die Truppengattungen, Verbände und Dienststellen der Bundeswehr, vor allem aber jeden einzelnen Angehörigen der Bundeswehr auf, diese Freiräume verantwortlich zu gestalten. Tragen Sie dazu bei, Tradition zu pflegen, die werteorientiert und sinnstiftend ist.
Bewahren und verändern gehören zusammen. Ich möchte, dass unsere Bundeswehr stärker ihre eigene stolze Geschichte erzählt mit Respekt vor den Leistungen der Vergangenheit, mit Stolz auf das Erreichte und in der Zuversicht, dass die Bundeswehr auch künftig Frieden und Freiheit verlässlich schützen wird.
Ihre
Dr. Ursula von der Leyen
Bundesministerin der Verteidigung
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