Was ist das Selbstverständnis der Bundeswehr? Und was bedeutet das für die Traditionspflege und die Bedürfnisse der Soldaten? In „Gesprächen am Ehrenmal“ sprachen darüber Professor Dr. Sönke Neitzel, Dr. Anja Seiffert und Oberst Dr. Sven Lange, moderiert von Dr. Astrid Irrgang, in Berlin.
Anja Seiffert, Wissenschaftlerin am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) betonte, wie wichtig eine kollektive Aufarbeitung der Erfahrungen von Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen sei. Die sozialwissenschaftliche Begleitung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist ihr Forschungsschwerpunkt.
Die heutigen Einsätze, in denen Soldaten gleichzeitig kämpfen und helfen müssten, seien extrem herausfordernd und würden in der Truppe als identitätsstiftend erlebt. Das viel zitierte „freundliche Desinteresse“ der Gesellschaft, beziehungsweise deren teilweise Ablehnung von Einsätzen, sei jedoch immer noch eine ernüchternde Erfahrung für die Soldatinnen und Soldaten, zumal diese oft mit einem gestärkten Selbstbewusstsein aus dem Einsatz wiederkämen. Auch wenn das Vertrauen in die Bundeswehr nach wie vor sehr hoch sei, wie die regelmäßigen Bevölkerungsbefragungen des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr belegten. Die Truppe wünsche sich allerdings mehr Halt und Orientierung.
Bundeswehrintern würde die Debatte über die Rolle des Staatsbürgers in Uniform und dessen Ausgestaltung im Einsatz, das heißt den Umgang mit Gefechtserfahrungen im Auslandseinsatz und inwiefern dies zum Selbstverständnis der Soldaten und zur Traditionsbildung beiträgt, geführt. Militärische Traditionsbildung sei jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Im Idealfall entstünden von Militär und Gesellschaft gemeinsam getragene Identitäts- und Traditionsbestände, die auch die Sinnfrage der Einsätze für die Soldatinnen und Soldaten besser beantworten würden.
Zu Recht könnten die Soldatinnen und Soldaten – insbesondere als Staatsbürger/Innen in Uniform – überzeugende Antworten von Politik und Gesellschaft erwarten. Eine Vergewisserung über die philosophischen Fragen „Woher komme ich?“, „Was macht mich als Staatsbürger in Uniform aus?“, „Wohin gehe ich?“ sei nach 20 Jahren Auslandseinsätzen überfällig.
Sönke Neitzel, Militärhistoriker an der Universität Potsdam, erläuterte, das heutige Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr vom Staatsbürger in Uniform würde ergänzt durch verschiedene Kulturen der Truppengattungen (tribal cultures) – und diese unterschieden sich nach Ebene und Organisationsbereich. Die Bundeswehr sei geprägt durch unterschiedliche Identitäten, weil das Konzept der Inneren Führung dies zulasse. Und das sei auch gut so für eine Organisation, die unterschiedliche Aufgaben erfülle.
Militärische Kulturen beeinträchtigten jedoch das Verhältnis von Bundeswehr und Gesellschaft. Die militärische Logik der Kriegführung erschließe sich der Gesellschaft und zum Teil auch anderen Teilen der Truppe nicht. Diese Ablehnung bewirke den Rückzug in Truppenkulturen und eine weitere Schwächung der militärischen und politischen Führung.
Unterschiedliche Referenzpunkte und Normensysteme müssten akzeptiert werden. Derzeit würde der „Kampf“ aus dem Traditionsbild der Bundeswehr herausdekliniert, das Bedürfnis nach Vorbildern sei aber groß, die Truppe suche sich diese selber. Hier sei mehr Ehrlichkeit gefragt von militärischer Führung und Politik. Die Truppe sei gefordert, ihre Kulturen weiterzuentwickeln.
Oberst Sven Lange hob hervor, dass die Debatte zur Tradition in der Bundeswehr bereits stattfinde. Er nahm als Experte des Verteidigungsministeriums an der Runde teil. Mehrere Teilstreitkräfte hätten eine Umsetzung des Traditionserlasses bereits fertiggestellt, weitere seien in Arbeit.
Der Erlass definiere die ganze deutsche Militärgeschichte als Resonanzraum, sofern sie der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht entgegenstehe. Dies sei der Rahmen, den die Truppe selber füllen müsse - auch für das „scharfe Ende“ des Einsatzes, also Verwundung und Tod. Als Beispiel nannte er die Clausewitzsche Doktrin des Kämpfens als Kern des soldatischen Handwerks. Man brauche aber auch Traditionen für den treuen Dienst im Frieden. Wenn Tradition wirklich gelebt werden solle, dann müsse sie von unten nach oben aufwachsen. Am Anfang stünde aber immer ein Entschluss eines Vorgesetzten, an einem bestimmten Ereignis festhalten und sich daran erinnern zu wollen.
Die Diskussion war die erste einer neuen Veranstaltungsreihe des BMVgBundesministerium der Verteidigung. Die „Gespräche am Ehrenmal“ sollen jeweils drei Mal pro Jahr anlässlich von Gedenktagen mit ausgewiesenen Experten, Zeitzeugen und Fachreferaten beziehungsweise zuständigen Dienststellen stattfinden. Debattiert werden soll über Fragen der Erinnerungskultur, der Militärgeschichte, der Sicherheitspolitik, des Selbstverständnisses der Bundeswehr und deren Verhältnis zur Gesellschaft.
Die „Gespräche am Ehrenmal“ sind bewusst interaktiv angelegt. Vor der Diskussion besteht die Möglichkeit, Fragen zu stellen, die während der Debatte behandelt werden können. Alle Wortbeiträge gibt es als Audio zum nachhören.
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