Das Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro soll nach den Vorstellungen des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, komplett in die Bundeswehr investiert werden. Das macht General Zorn gegenüber der WELT deutlich und legt konkrete Pläne vor, für welche Projekte er das Geld verwenden will.
WELT: General Zorn, spätestens seit Napoleons Russlandkrieg weiß jeder Küchenstratege, dass eine siegreiche Armee sich immer weiter von ihrem Heimatland entfernt, folglich abgeschnitten ist von Nachschub, Vorratslagern und Werkstätten. Wie erklären Sie sich, dass Putins Generäle einen derartigen Anfängerfehler begehen konnten, dass der Krieg nun fast ein Stellungskrieg geworden ist?
Eberhard Zorn: Seit Beginn des russischen Aufmarsches an der Grenze zur Ukraine im vergangenen Jahr haben wir jegliche Truppenbewegungen verfolgt. Die ganze Zeit über fragten wir uns, wann die Logistik und der Sanitätsdienst nachkommen – denn das waren für uns die Indikatoren, wann konkret ein Angriff beginnen könnte. Wir waren dann wirklich überrascht, als wir sahen, dass die nachgeführte Logistik nur sehr klein dimensioniert war. Die zweite Überraschung erlebten wir, als wir eine auf 60 Kilometer aufgestaute Panzer-Kolonne beobachteten, die sich tagelang nicht fortbewegte und damit ein leichtes Ziel für ukrainische Kräfte bot. Ich habe bis heute keine Erklärung dafür, warum der Aufmarsch der Russen derart fehlerbehaftet war.
Gilt im Ukraine-Krieg, was man sonst über einen Guerilla-Krieg sagt: Die Regierung verliert, solange sie nicht gewinnt; die Aufständischen gewinnen, solange sie nicht verlieren?
Sofern die jüngsten Verhandlungen in Istanbul nicht zu einem Waffenstillstand führen, gilt dies für die kommende Zeit. Ich denke, wir werden dann einen zunehmenden Guerillakrieg erleben. Der könnte für die Zivilbevölkerung extrem brutal und blutig werden, wie wir es in Mariupol schon sehen. Die Hauptstadt Kiew bereitet sich auf die Taktiken eines solchen Kriegs vor: auf den Häuserkampf mit der entsprechenden Infanterie.
Ho Chi Minh hat mit Blick auf den Vietnamkrieg und die kämpfenden Amerikaner dort gesagt: „Auch wenn ihr zehn von uns und wir nur einen von euch töten, werden wir siegen. Warum? Weil die Einheimischen sich nicht im nächsten Militärflugzeug absetzen können.“ Gilt das auch für die Russen in diesem Krieg?
Bislang sehe ich auf russischer Seite keine Absetzbewegung. Im russischen Fall spielt die Öffentlichkeit im Krieg auch eine andere Rolle als die in den USA während des Vietnam-Kriegs. Es gibt keine freie Presse, so dass sich die russische Bevölkerung nicht in vollem Umfang über diesen Krieg informieren kann. Was wir aber aus unseren Quellen wissen: Die Moral der russischen Truppen in der Ukraine lässt nach, vor allem unter den Rekruten, die dachten, sie nähmen an einer Übung teil.
Muss man nicht trotzdem sagen: Den Sieg dieser militärischen und nuklearen Supermacht kann die Ukraine allenfalls verzögern, verhindern kann sie ihn nicht?
Zur Stunde ist das schwer zu sagen. Wir erleben gegenwärtig eine Art Teilung des Landes in Ost und West und in dieser Teilung eine gewisse Pattsituation. Gleichzeitig nehmen wir wahr, dass auf russischer Seite nicht genügend konventionelle Kräfte nachgeführt werden. Die ukrainischen Kräfte machen ihre Sache taktisch klug. Aber kann das am Ende auch den Sieg bringen? Das weiß niemand.
Die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Staaten haben bislang deutlich gemacht, dass sie nicht Kriegspartei werden wollen. Sehen Sie ein Szenario, in dem sich das ändern könnte, zum Beispiel der Einsatz von ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Waffen, der auch NATONorth Atlantic Treaty Organization-Territorium kontaminiert?
Es gilt, was sowohl der Bundeskanzler als auch US-Präsident Joe Biden gesagt haben: Wir werden in keinem Fall eigene Kräfte auf ukrainischem Territorium einsetzen.
Wenn Sie sich die russische Kriegsführung bisher anschauen – welche Lehren ziehen Sie dann für die Verteidigungsstrategie der NATONorth Atlantic Treaty Organization im Allgemeinen, die der Bundesregierung im Besonderen?
Wir haben nach der Annexion der Krim 2014 begonnen, die Bundeswehr wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung auszurichten.
Dieser Weg muss nun konsequent weiterverfolgt werden. Wir wollen nicht aufrüsten, sondern vollausstatten.
Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro wird auch dazu genutzt werden.
Braucht Deutschland einen Raketenschutzschirm, ähnlich wie Israel?
Wir unterscheiden zwischen drei Ebenen des Schutzes: Die erste ist der Schutz der beweglichen Kräfte am Boden. Da haben wir nur noch geringe Fähigkeiten, aber schon in der letzten Legislaturperiode die Anschaffung neuer Systeme angestoßen. Das muss nun umgesetzt werden. Die mittlere Schicht wird durch das PatriotPhased Array Tracking Radar to Intercept on Target-Abwehrsystem geschützt, das modernisiert werden muss. Die dritte Schicht bezieht sich auf den Schutz vor Raketen, die etwa in Kaliningrad stehen, die berüchtigten Iskander. Sie können fast alle Ziele in Westeuropa erreichen, und es fehlt ein Abwehrschirm. Die Israelis und die Amerikaner verfügen über die entsprechenden Systeme. Welchem von beiden geben wir den Vorzug? Schaffen wir es, ein Gesamtsystem in der NATONorth Atlantic Treaty Organization aufzubauen? Diese Fragen müssen wir nun beantworten. Bisher ist nur eines klar: Wir haben weder die Zeit noch das Geld, diese Systeme selbst zu entwickeln. Denn die Raketenbedrohung ist bereits vorhanden und bekannt.
Wieviel Zeit hat uns der Ukraine-Krieg verschafft, um so gewappnet zu sein, dass wir einen möglichen russischen Vormarsch gegen Westen konventionell abschrecken können?
Im Moment sehen wir keine Anzeichen, die für einen Angriff russischer Truppen auf NATONorth Atlantic Treaty Organization-Staaten sprechen würden. Insofern haben wir tatsächlich Zeit, die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Fähigkeiten zu erweitern und die Ostflanke zu verstärken. Bis etwa Ende Mai werden wir in allen Staaten von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer die nötigen Gefechtsverbände aufgestellt haben. Gleichzeitig kümmern wir uns darum, die Linien dahinter auf einen modernen Stand zu bringen, beweglich zu machen und die coronabedingten Ausbildungslücken zu schließen. Wir brauchen wieder eine Kaltstartfähigkeit – sprich ad hoc verlegbare Verbände.
Bislang verfügt die Bundeswehr über keine einzige voll ausgerüstete Division…
Die Ausrüstung für eine Division ist vorhanden. Nur: das Material ist nicht auf dem modernsten Stand und auf viele Verbände verteilt. Unser vorrangiges Ziel ist jetzt die Modernisierung. Die überarbeiteten Leopard-2-Panzer sind auf dem Weg. Jetzt müssen wir den alten Schützenpanzer Marder durch Puma und Boxer ersetzen und mit Brückenpanzern, Bergepanzern und schweren LKWs ergänzen.
Ab wann also wird der Satz von Alfons Mais nicht mehr gelten? Am ersten Kriegstag sagte der Inspekteur: „Das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“
Wir gehen davon aus, dass wir 2025 eine Division mit etwa 15.000 Frauen und Männern vollständig modernisiert der NATONorth Atlantic Treaty Organization zur Verfügung stellen können – ausgebildet, ausgerüstet und somit voll einsatzbereit. Wir haben dahingehend mit den Vertretern der Industrie gesprochen. Ich gehe davon aus, dass sie ihre Zusagen einhalten werden. Bis dahin ist unser Ziel, die dafür drei nötigen Brigaden mit je 5.000 Soldatinnen und Soldaten nacheinander komplett auszurüsten. 2023 führen wir die VJTFVery High Readiness Joint Task Force der NATONorth Atlantic Treaty Organization, diese Brigade wird danach all ihr Material behalten. Anschließend wird die Panzerbrigade 12, die bereits über den Puma in der neuesten Version verfügt, voll ausgestattet. Und schließlich die deutsch-französische Brigade, die auch schon guten Ausstattungsstand hat.
Der Bundeskanzler hat in seiner Zeitenwenden-Rede am 27. Februar versprochen, fortan zwei Prozent des BIPBruttoinlandsprodukt für die Verteidigung auszugeben. Sind Sie von der Entschlossenheit des Kanzlers überzeugt?
Ich bin von der Ernsthaftigkeit des Bundeskanzlers in dieser Frage fest überzeugt. Die 100 Milliarden Euro kamen nicht von ungefähr. Mit Beginn der neuen Legislaturperiode hatten wir überlegt, welche Rüstungsprojekte wir mit Priorität zur Erfüllung unserer Aufträge brauchen. Da kamen wir etwa auf diese Summe. Die Ukraine-Krise hat jetzt das Bewusstsein dafür geschärft, die Bundeswehr besser auszustatten. Für mich ist klar: Dieses Sondervermögen dient ausschließlich der Ausstattung der Bundeswehr. Es ist weder gedacht für irgendwelche Zulagen beim Personal noch für die Umsetzung eines erweiterten Sicherheitsbegriffs. Für die Wehrhaftigkeit Deutschlands ist es sehr gut, dass nun endlich Planungssicherheit herrschen wird.
Sie waren vorige Woche mit einer Prioritätenliste für Rüstungsgüter beim Kanzler. Inwieweit hat er diese Liste korrigiert?
Ich war mit der Ministerin und den beiden Staatssekretären im Kanzleramt, um die Systemzusammenhänge zu erklären. Warum brauchen wir was? Aufgrund welcher Bedrohungsanalyse? Davon haben wir zwei: eine in der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Strategie 2019 und die aktuelle im strategischen Kompass der EUEuropäische Union. Und es gibt Weiterentwicklungen, was Russland betrifft, aber auch die Rolle Chinas. Es geht also darum, die Fähigkeitsforderung im Lichte der Bedrohungslage und der Verteidigungsplanungen zu priorisieren. Diesen Kontext braucht das Kanzleramt, um das politisch einordnen zu können. Und erst nach dieser Gesamtschau kommen wir zu den einzelnen Projekten, bei denen wir auch die Schwerpunkte aus dem Koalitionsvertrag beachten. Priorität haben Führungsfähigkeit und schnelle Sichtbarkeit des Materials in der Truppe.
In der NATONorth Atlantic Treaty Organization ist Deutschland vor allem als Landmacht gefragt. Spiegelt sich das in Ihrer Prioritätenliste wider?
Wir sind eine Bündnis-Armee. Die Bundeswehr war noch nie in der Lage, Deutschland ganz alleine zu verteidigen. Wir tragen zum Fähigkeitsprofil der NATONorth Atlantic Treaty Organization bei, abgestimmt mit anderen Nationen. Da ist das deutsche Heer sicherlich ein großer Player. Es hat umgehend neben den 12.000 Frauen und Männern der NATONorth Atlantic Treaty Organization Response Force weitere Kräfte bereitgestellt. Aber heute nur noch in Panzerverbänden zu denken, greift zu kurz. Wir brauchen diese weiterhin, der Krieg der Zukunft wird nicht nur noch im Cyberraum stattfinden. Aber auch Luftwaffe und Marine haben eine ungeheure Bedeutung. Nach Putins Überfall hat die Luftwaffe innerhalb von anderthalb Tagen Eurofighter Richtung Polen und Rumänien gebracht. Sie war auch in der Lage, schnell die Patriots zu stellen. Auch die Marine hat alles, was nicht im Einsatz war, sofort aktiviert, in der Summe 28 Einheiten.
Sie haben bereits voriges Jahr einen Investitionsbedarf allein für Munition in Höhe von 20 Milliarden Euro ausgemacht. Inwiefern erhöht sich dieser Bedarf durch die Waffenlieferungen an die Ukraine?
Wir haben aus den eigenen Beständen nur überschaubare Mengen abgeben können, weil unsere Depots keineswegs voll sind. Insofern ist die Lösung, dass die Ukraine bei Rüstungsfirmen selber kauft, der richtige Ansatz. Der Investitionsbedarf liegt weiter bei 20 Milliarden Euro bis 2032. Dieser Aufbau der Vorräte, den wir der NATONorth Atlantic Treaty Organization zugesichert haben, wird mit dem Sondervermögen fortgeführt.
Nun bekommen sie Geld und können damit einkaufen gehen – und dann kommt das Koblenzer Beschaffungsamt und verbockt es. Woran hapert es genau im Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnologie und Nutzung?
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamts sind hoch engagiert und arbeiten gewissenhaft. Allerdings unter leistungsmindernden Rahmenbedingungen: Wir haben eine extrem komplexe Prozesslandschaft, die schon in der Planungswelt unserer Streitkräfte beginnt. Was kaufen wir, was entwickeln wir? Wie komplex muss die Technik sein? Das dauert alles viel zu lange, auch weil viel zu viel Wunschdenken in so ein Projekt hinein dekliniert wird. Das Bundesamt selbst hat 70 Handlungsfelder identifiziert, die nun abgearbeitet werden. Dann das Rechtliche: Wir sind viel zu stark eingeschränkt gewesen durch das Vergaberecht. Aber die Ministerin hat angeordnet, dass wir – schon jetzt im Ukrainekrieg – viel stärker Ausnahmetatbestände vom EUEuropäische Union-Vergaberecht nutzen. Und schließlich müssen wir unsere deutschen Sonderwünsche weglassen.
Die was?
Wir neigen dazu, marktverfügbare Produkte nach deutschen Vorstellungen umzubauen. Mein Lieblingsbeispiel ist das neue Kampfboot der Marine. Das gibt es schon, in Finnland, Schweden und Norwegen. Wenn deren Streitkräfte in ihren Gewässern mit dem Ding fahren können, wüsste ich nicht, was deutsche Seeleute davon abhalten sollte, das auch zu tun. Also werden wir es genau so kaufen, ohne irgendwelche Sonderwünsche. Das gleiche gilt für den Hägglund, ein Überschneefahrzeug für die Gebirgsjäger, Fallschirme, Geländewagen und zahllose andere Projekte – bis hin zu einem neuen Rucksack.
Was ist an einem Rucksack so kompliziert?
Es gab unzählige Wunschvorstellungen, was dieser Rucksack alles können muss. Ich habe jetzt entschieden, dass 220.000 Rucksäcke auf dem freien Markt gekauft werden, in olivgrün. Das KSKKommando Spezialkräfte hat den bereits, die anderen bald auch. Und die frei gewordenen Entwickler setzen wir ab sofort für Wichtigeres ein. Unter solchen Bedingungen können die Frauen und Männer im Koblenzer Bundesamt dann ihr Potenzial viel besser entfalten.
Dieses Interview erschien zuerst in der Welt am Sonntag vom 3. April 2022.
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