Rede der Bundesministerin der Verteidigung Christine Lambrecht bei der MSCMunich Security Conference Innovation Night am 17. Februar 2022.
Es gilt das gesprochene Wort!
Exzellenzen,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
Sie alle sind Expertinnen und Experten für das Neue und Unbekannte. Und daher ist Ihnen das folgende Diktum wahrscheinlich nur zu bekannt:
„Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“
Von wem dieses Diktum stammt, darüber streiten die Gelehrten. Wahlweise zugeschrieben wird es Mark Twain, Niels Bohr, Winston Churchill oder auch Karl Valentin, einem echten Münchner Original.
Doch ganz gleich, von wem dieser spöttische Satz stammt: er ist nur deshalb so bekannt geworden, weil er den Finger genau in die Wunde legt. Er spottet über die Vergeblichkeit komplexer menschlicher Prognosen. Und damit weist er auf ein Dilemma unserer modernen Gesellschaft hin:
Wir leben in einer Zeit, in der sich der technologische Fortschritt immer weiter beschleunigt. Das bedeutet einerseits: Wenn wir nicht zu Getriebenen des Fortschritts werden wollen, sondern den Fortschritt gestalten und beherrschen wollen, dann müssen wir immer weiter vorausplanen. Andererseits wird genau das mit zunehmender Dynamik immer schwieriger.
Daher ist es auch kein Zufall, dass unsere Ausführungen über die Zukunft meist recht abstrakt ausfallen. Zwar beschreiben wir in blumigen Worten die Umbrüche, die uns bevorstehen, die Herausforderungen, die damit einhergehen, sowie die Chancen, die wir nutzen, und die Risiken, die wir eindämmen wollen. Aber wie wir das konkret machen werden, bleibt notgedrungen unbestimmt und vage.
Diese Aussage gilt für die Politik genauso wie für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. Und innerhalb der Politik gilt sie für nahezu alle Politikfelder. So auch für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik:
Wir wissen: Wir leben in einer Zeit globaler Machtverschiebungen, neuer Bedrohungen und technologischer Quantensprünge. Das digitale Zeitalter bringt große Umwälzungen mit sich, die sich auf alle Ebenen unserer Sicherheitsarchitektur auswirken.
Wir wissen: Neue Technologien können unsere Gesellschaft stärker machen, aber auch verwundbarer: Das internet-of-everything lässt uns fast alles online steuern und macht uns so sehr viel schneller und effizienter. Gleichzeitig aber können Hackerangriffe schon heute etwa Kraftwerke lahmlegen und uns auch individuell bedrohen, Beispiel Datendiebstahl.
Wir wissen: In unserer hoch vernetzten Gesellschaft haben immer mehr Menschen immer besseren Zugriff auf das gesellschaftlich verfügbare Wissen. Das macht unsere Gesellschaft demokratischer. Gleichzeitig lassen sich Hass, Hetze und gezielte Falschinformationen so schnell wie noch nie verbreiten. Und das macht uns anfällig für Informationskriege, die unsere Demokratie bedrohen.
Wir wissen: Neue technische Möglichkeiten vernetzen unsere Streitkräfte untereinander wie auch mit unseren Partnern und Verbündeten. So können wir beispielsweise durch ad hoc verfügbare gemeinsame Lagebilder sehr viel schneller auf eine Bedrohung reagieren. Gleichzeitig bieten diese Schnittstellen neue Angriffsflächen für den Feind.
Die Konflikte der Zukunft werden nicht mehr nur zu Land, zu Wasser und in der Luft ausgetragen, sondern auch im Cyberraum und im Weltall. Wir werden es mit immer neuen Waffensystemen zu tun bekommen: Lenkbare Hyperschallraketen waren noch vor wenigen Jahren Zukunftsmusik. Heute sind sie Realität. Autonome Waffensysteme könnten den Menschen nach und nach ersetzen: Drohnen so klein wie eine Mücke, gesteuert von künstlicher Intelligenz. Und schon heute verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Waffe: Russland hat ein Exoskelett entwickelt, das Soldatinnen und Soldaten mobiler, leistungsfähiger und belastbarer macht. Und in China hat die bionische Forschung militärische Priorität.
Das alles wissen wir. Und uns ist bewusst, dass wir unsere Gesellschaft widerstandsfähiger gegen Angriffe jeder Art machen müssen; dass wir unsere Streitkräfte fit machen müssen für neue Formen von Konflikten, für die Konfliktfelder und die Waffen der Zukunft. Und wir arbeiten schon heute mit Hochdruck am digitalen Kulturwandel unserer Streitkräfte.
Aber je weiter wir nach vorne schauen, desto vager werden unsere Aussagen, desto weniger können wir konkrete Maßnahmen benennen, die wir ergreifen werden. Denn wir kennen noch längst nicht alle Bedrohungen, die in unserer High-Tech-Welt künftig auf uns einstürmen werden. Und niemand weiß heute, welche digitalen Techniken die Welt in einigen Jahren dominieren und was sie für unsere Sicherheit bedeuten.
Aber heißt das, wir sind der Zukunft „hilflos“ ausgeliefert – um ein Schlagwort des diesjährigen MSCMunich Security Conference Titels aufzugreifen? Heißt das, unsere Politik hat die Fähigkeit verloren, Fortschritt zu gestalten und zu beherrschen?
Meine Antwort ist ganz klar: nein! Denn auch wenn wir heute noch nicht wissen, welche Schritte wir Morgen gehen müssen, so können wir bereits heute den Weg dafür ebnen, dass es die richtigen Schritte sein werden: nämlich, indem wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen, mit den Entwicklungen der Zukunft mithalten zu können. Vier Punkte möchte ich hervorheben:
Erstens: Wir müssen schon heute auf die Sicherheit von morgen einzahlen. Und das meine ich wörtlich: Um uns den nötigen Handlungsspielraum zu verschaffen, unsere Streitkräfte zu modernisieren, müssen wir uns finanziell gut aufstellen. Das heißt: Wir müssen die Verteidigungsausgaben weiter erhöhen, und zwar nachhaltig.
Zweitens: Wir müssen unsere Prozesse und Verfahren so gestalten, dass wir bei aller Dynamik das Steuer fest in der Hand behalten. Wenn es um die Modernisierung unserer Bundeswehr geht, ist ein zentrales Feld die Beschaffung. Die hohe Innovationsgeschwindigkeit droht bisweilen, sorgfältig geplante Beschaffungsprozesse zu überholen. Daher müssen wir schneller und effizienter werden und dafür sorgen, jederzeit nachsteuern zu können. In diesem Sinne werde ich das Beschaffungswesen der Bundeswehr gründlich modernisieren.
Drittens: Fortschritt bedeutet Verantwortung. Es ist unsere Aufgabe, den Fortschritt so zu gestalten, dass er nach ethischen Grundsätzen verläuft. Daher setzt sich diese Bundesregierung dafür ein, dass wir die waffentechnologischen Entwicklungen einer weltweiten Rüstungskontrolle unterwerfen. Das gilt insbesondere für Biotech, Hyperschall, Weltall, Cyber und KIKünstliche Intelligenz.
Und viertens – das ist heute Abend der zentrale Punkt: Fortschritt braucht Innovation. Daher schaffen wir Infrastrukturen, die sicherheitsrelevante Innovationen fördern. Und daher sorgen wir dafür, dass unsere Streitkräfte vom reichhaltigen gesellschaftlichen Innovationswissen profitieren können.
Wie aber nützliche, anwendbare Innovation schaffen, wenn gar nicht klar ist, welcher Trend sich durchsetzt, welche Bedrohung real wird?
Das geht nur über eine Kultur des Experimentierens und des Tüftelns; eine Kultur, in der man auch einmal eine schräge Idee verfolgen kann, und in der es okay ist, wenn sie scheitert; eine Kultur, in der der Fokus nicht von Anfang an auf einem bestimmten Ergebnis liegt, sondern auf dem kreativen Prozess, bei dem auch etwas Unerwartetes entstehen kann; und eine Kultur, die nicht nur die revolutionären Großentwicklungen im Blick hat, sondern die auch aus einem kleinen Projekt Funken schlagen lässt.
Für diese Kultur steht der Cyber Innovation Hub der Bundeswehr: unsere Einheit für digitale Innovationen und unsere Schnittstelle zum innovationstreibenden Startup-Ökosystem. Streitkräfte auf der ganzen Welt haben solche Einheiten aufgebaut. Und auch in der NATONorth Atlantic Treaty Organization stellen wir mit DIANA eine solche Einheit auf die Beine.
Wir wissen: Diese Einheiten leben von Ihnen, den klugen und kreativen Köpfen unserer digitalen Gesellschaft. Die Zukunft ist die Summe dessen, was Sie jeden Tag auf Ihren Smartboards haben. Es sind die Experimente und Tüfteleien, Versuche und Irrtümer, kleinen und großen Projekte, an denen Sie arbeiten. Es sind die Innovationen, von denen wir heute noch nicht wissen, ob sie morgen vielleicht das nächste große Ding sind. Und es sind die Innovationen, von denen unsere Soldatinnen und Soldaten schon heute profitieren.
Ein großartiges Beispiel dafür ist ein neuartiger mobiler Licht-Teppich: Denken Sie an Sanitätskräfte im Einsatz. Eine Kameradin mit Schussverletzung. Die Blutung muss sofort gestillt werden. Das geht nur bei ausreichend Licht. Bislang gab es dafür Stirnlampen.
Doch die leuchten nur dorthin, wo die Trägerin gerade hinschaut. Nicht optimal. – Jetzt gibt es dafür eine sehr viel bessere Lösung: einen knautsch-, knick- und rollbaren, extrem leichten Licht-Teppich. Er passt in jede Hosentasche und leuchtet ein beständiges Licht. Helligkeit und Farbe lassen sich zudem digital an die Umgebung anpassen. Ein Meisterwerk aus der Innovationsschmiede der Bundeswehr!
Meine Damen und Herren,
ja, Karl Valentin und Co. hatten Recht:
„Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn Sie die Zukunft betreffen.“
Aber das muss uns nicht stören, solange wir auf die unvorhersehbare Zukunft nur gut genug vorbereitet sind. Dazu gehören ein stabiles finanzielles Fundament, gute Verfahren und ethische Verantwortung, genauso wie die Tugenden, für die der Cyber Innovation Hub steht: Mut zum Risiko, Lust aufs Experiment und Offenheit für Veränderung. Und dazu gehören die Menschen, die Lust aufs Experiment haben, wie Sie.
Ich wünsche Ihnen einen weiterhin regen Austausch und eine spannende MSCMunich Security Conference Innovation Night!
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