Die Bundeswehr konzentriert sich wieder verstärkt auf die Landes- und Bündnisverteidigung. Kann die Truppe dabei etwas von ihrem eigenen operativen Denken während des Kalten Krieges lernen? Wie unterscheidet sich die Bedrohungslage heute von der in den 1980er-Jahren? Diese Fragen diskutierten Experten am 1. Juli bei den „Gesprächen am Ehrenmal“.
Anlässlich des 30. Jahrestages der Auflösung des Warschauer Paktes debattierten Zeitzeugen und Führungskräfte der Bundeswehr darüber, wie sich das operative Denken und Selbstverständnis der Bundeswehr in der Endphase des Ost-West-Konfliktes und heute unterscheiden. Im Zentrum der Expertenrunde stand auch die Frage, wie sich die Bundeswehr künftig aufstellen müsse, um den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa gewachsen zu sein.
Die Podiumsdebatte stand unter dem Motto „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“ und war die zweite Veranstaltung des neuen Dialogformates „Gespräche am Ehrenmal“. Die Politikabteilung des Verteidigungsministeriums hatte die Gesprächsreihe im Frühjahr 2021 ins Leben gerufen, um sowohl über Fragen der Erinnerungskultur und der Bundeswehrgeschichte als auch über aktuelle sicherheitspolitische Themen zu diskutieren.
Der stellvertretende Leiter der Abteilung Politik, Dr. Rüdiger Huth, eröffnete die Veranstaltung mit einem Grußwort. Moderiert wurde die Veranstaltung von Professor Gary Schaal von der GIDSGerman Institute for Defence and Strategic Studies (German Institute for Defence and Strategic Studies).
Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes habe sich die Bundeswehr in den vergangenen 25 Jahren schwerpunktmäßig darauf konzentriert, im Rahmen des internationalen Krisenmanagements Auslandsmissionen zu unterstützen, erklärte Generalleutnant Alfons Mais, Inspekteur des Heeres. Dabei habe das klassische operative Denken, wie es im Kalten Krieg an der Tagesordnung war, über zwei Jahrzehnte hinweg jenseits des Hörsaales kaum mehr eine Rolle gespielt. Im internationalen Krisenmanagement sei hauptsächlich auf der taktischen Ebene und mit weitaus kleineren Einheiten, beispielsweis auf der Ebene Zug oder Kompanie, gearbeitet worden.
Doch 2014 annektierte Russland völkerrechtswidrig die Krim. Das veränderte die Sicherheitslage einschneidend. Mit der daraus folgenden Neuausrichtung der Bundeswehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung habe das Heer die Notwendigkeit für neue operative Leitlinien mit einem Zeithorizont über 2030 hinaus erkannt, so Mais. „Mit den operativen Leitlinien wollen wir die Schlüsselfragen beantworten: Was ist der zukünftige Zweck von Landstreitkräften? Wogegen richten sie sich? Wie müssen sie sich aufstellen und operieren?“ Ziel sei es, die künftige Struktur, Organisation und Doktrin der deutschen Landstreitkräfte so zu verändern, dass sie die militärischen Aufgaben der kommenden Dekade erfolgreich meistern können.
Diese Aufgabe liege auf einer Linie mit dem kürzlich veröffentlichten Eckpunktepapier zur Bundeswehr der Zukunft. Es enthalte konkrete Vorgaben, wie sich das Heer künftig aufstellen müsse. Die Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen sei bisher stets lange im Voraus geplant worden. Künftig aber müssten Großverbände des Heeres wieder „kaltstartfähig“ sein, das heißt, sie müssten im Krisenfall innerhalb von Tagen an den Außengrenzen des NATONorth Atlantic Treaty Organization-Bündnisgebietes einsatzbereit sein, erklärte der Chef des Heeres.
„Wir müssen aus dem derzeitigen Zustand, der 20 Jahre der passende war, den Weg nach vorne beschreiten“, sagte Mais. Im internationalen Krisenmanagement sei aufgrund grundsätzlich unterlegener Gegner gegebenenfalls nur die Glaubwürdigkeit des eigenen Engagements gefährdet gewesen. „In der Landes- und Bündnisverteidigung steht die Existenz von Bündnispartnern und gegebenenfalls die Vernichtung eigener Großverbände im Raum“, betonte der Heeresinspekteur. Die militärischen Fähigkeiten des Gegners seien wieder der wichtigste Bezugsrahmen für operatives Denken.
Eine bloße Rückkehr zum operativen Denken des Kalten Krieges könne es aber nicht geben, erklärte Mais. Denn zusätzlich zur Landes- und Bündnisverteidigung müsste die Bundeswehr auch weiterhin ihre Aufgaben im internationalen Krisenmanagement erfüllen.
Zudem hätte sich die operative Planung der Bundeswehr während des Ost-West-Konfliktes auf die Verteidigung des eigenen Territoriums bezogen. Heute würden die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verteidigungsplanungen ein viel größeres Gebiet umfassen. Truppen und Material müssten über weite Entfernungen zum Einsatzgebiet transportiert werden, was einen größeren logistischen Aufwand erfordere.
Schließlich seien die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Einsatzverbände wie die Bataillone von EFPEnhanced Forward Presence (Mission zur Sicherung der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ostflanke im Baltikum) und die Brigaden von VJTFVery High Readiness Joint Task Force (schnelle NATONorth Atlantic Treaty Organization-Eingreiftruppe) heute viel multinationaler aufgestellt. Deshalb müsse verstärkt an der Interoperabilität zwischen den verschiedenen nationalen Streitkräften innerhalb der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Einsatztruppen gearbeitet werden.
Eine ähnliche Rückbesinnung auf den Kampf, wie sie die Bundeswehr heute erlebe, habe es auch schon in den 1980er-Jahren gegeben, berichtete Generalmajor a. D. Friedrich Freiherr von Senden. Er war von 1987 bis 1989 stellvertretender Chef des Stabes für Führung, Operationsplanung und Ausbildung im I. Korps der Northern Army Group, einem Zusammenschluss westeuropäischer Heereskorps, die während des Kalten Krieges im Verteidigungsfall der NATONorth Atlantic Treaty Organization unterstellt werden sollten.
„Seit Mitte der 1970er-Jahre hatte man in Teilen der Bundeswehr Technik und Bildung des jungen Führungsnachwuchses der Offiziere in den Mittelpunkt gesetzt und wichtige kriegsnahe Ausbildungsgebiete vernachlässigt. Damit verbunden war auch ein Nachlassen der Fähigkeit zur militärischen Menschenführung im Gefecht“, erklärte von Senden. Für Offiziere sei damals während der Ausbildung nur relativ wenig Dienstzeit in der Truppe vorgesehen gewesen.
„Aber die militärische Bedrohungslage zwang uns zu einer Verbesserung der kriegsnahen Ausbildung“, so von Senden. Deshalb habe das Heer 1985 eine neue Ausbildungshilfe mit dem Titel „Kriegsnah ausbilden“ herausgegeben, um Schwächen beim Führen im Gefecht zu überwinden. Zudem sei damals jedes Jahr unter großem Aufwand eine Heeresübung mit Volltruppe im Gelände durchgeführt worden, um die Einsatzbereitschaft der Truppe zu verbessern.
Oberst a. D. Friedrich Jeschonnek bestätigte in seinem Vortrag, dass Großübungen auf NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ebene dazu beitrügen, die Verteidigungsfähigkeit der Verbündeten zu stärken. Jeschonnek war von 1983 bis 1986 im Hauptquatier der Northern Army Group eingesetzt.
Die womöglich größte Veränderung gegenüber der Zeit des Kalten Krieges sprach Konteradmiral Roland Obersteg, Chef des Stabes des Kommandos Cyber- und Informationsraum (CIRCyber- und Informationsraum), an: Mit der Entstehung des Internets beziehungsweise des Cyberraumes seien gänzlich neue Bedrohungen entstanden.
So sei die hybride Kriegsführung – der parallele Einsatz von militärischen und nichtmilitärischen Mitteln wie Desinformationskampagnen und Cyberangriffen – eine neue Herausforderung, der sich die Bundeswehr derzeit stellen müsse. „Wir erleben aktuell, dass Staaten massiv die Möglichkeit nutzen, um in- und außerhalb von Kriegen und Einsätzen mit Desinformation und Propaganda Gesellschaften und Bündnisse zu spalten, Zweifel zu säen und bereits im Frieden daran zu arbeiten, die Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit des jeweiligen Gegners zu unterminieren“, erklärte Obersteg.
Die Bundeswehr habe deshalb 2017 den militärischen Organisationsbereich CIRCyber- und Informationsraum eingerichtet. Dabei könnten die CIRCyber- und Informationsraum-Streitkräfte eigenständige Operationen im Cyber- und Informationsraum durchführen. Zudem würden derzeit im Rahmen einer Testphase Cyber-Information-Teams Truppenführer des Heeres direkt vor Ort beraten. Streitkräfteübergreifenden Operationen seien besonders wichtig, um die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr zu stärken.
Abschließend waren sich die Teilnehmer der Diskussionsrunde darin einig, dass die neue Sicherheitslage in Europa und die daraus folgende Neuausrichtung der Bundeswehr deutlicher der Gesellschaft, aber auch der Truppe vermittelt werden müssten.
„Auch die Truppe muss verstehen, dass sie in einer anderen Rolle ist“, so Mais. „Die Kaltstartfähigkeit, also die Fähigkeit, von null auf hundert einsatzbereit zu sein, müssen große Teile des Heeres erst einmal wieder verinnerlichen.“ Im Heer würden deshalb nicht nur neue operative Leitlinien entwickelt, sondern auch die Führungsvorschriften auf der taktischen Ebene erneuert, um eindeutige Ausbildungsgrundlagen für die Zukunft zu schaffen.
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