Viersterne-General Christian Badia ist Stellvertretender Kommandeur des Allied Command Transformation (ATCArms Trade Treaty) der NATONorth Atlantic Treaty Organization in Norfolk, Virginia, und damit ranghöchster deutscher Soldat bei der Allianz. Seine Dienststelle organisiert die notwendige Weiterentwicklung der NATONorth Atlantic Treaty Organization. Im Interview spricht er zu notwendigen Änderungen und Impulsen in der Sicherheitspolitik.
General Christian Badia ist seit vierzig Jahren Soldat und Offizier der Luftwaffe. Er ist Strahlflugzeuge geflogen und hat verschiedene Verwendungen in der Truppe sowie im Verteidigungsministerium durchlaufen. Seit 2022 ist er stellvertretender Kommandeur des Allied Command Transformation der NATONorth Atlantic Treaty Organization, der strategischen Denkfabrik der Allianz. Im Interview skizziert der Viersterne-General die Rolle der NATONorth Atlantic Treaty Organization in der aktuellen sicherheitspolitischen Lage und nimmt zu den daraus erwachsenden Herausforderungen Stellung.
Herr General, die Konfrontation des Westens mit Russland zeigt sich auf vielen Ebenen. Haben wir einen Kalten Krieg 2.0?
Nein, nach meiner Einschätzung haben wir keinen Kalten Krieg 2.0. Die Situation heute ist wesentlich komplexer. Der Kalte Krieg war bipolar, mit zwei klar umrissenen Machtblöcken: dem Warschauer Pakt und der NATONorth Atlantic Treaty Organization. Die jeweiligen Führungsnationen kannten sich, man hatte Kanäle, um miteinander zu sprechen. Das ist heute anders. Mit China, den BRICS-Staaten und Ländern im Globalen Süden – um nur einige zu nennen – sind jetzt weitere Mächte mit ganz unterschiedlichen Interessen präsent. Sicherheit muss daher heute immer global, nicht mehr nur regional gedacht werden.
Wie schätzen Sie unsere aktuelle sicherheitspolitische Situation ein?
Wir leben in einer Zeit der konstanten Bedrohung und der stetigen Angriffe im Cyber-, Informations- und Weltraum. Vielen Menschen in Deutschland ist das in dieser Weise bisher nicht bewusst, aber die Gefahr ist sehr real. Cyberattacken zum Beispiel können ein hoch technisiertes Land wie Deutschland schnell lahmlegen. Darauf müssen wir uns und unsere Gesellschaft vorbereiten.
Welche Gefahr birgt diese Situation aus Ihrer Sicht?
Die Hauptrisiken sind Fehleinschätzungen und darauf basierende falsche Reaktionen aufgrund fehlender Kommunikation, die dann zu ungewollter Eskalation mit unabsehbaren Konsequenzen führen kann.
Sie stehen mit an der Spitze von Allied Command Transformation, der strategischen Denkfabrik der NATONorth Atlantic Treaty Organization. Was sind aktuell die drei Top-Herausforderungen für die Allianz?
Unsere Top-Prioritäten sind Zeit, Nachhaltigkeit und Fähigkeiten. Globale Krisen entwickeln sich heute rasant, viel schneller als früher. Und darauf müssen wir schneller und adäquat, mit den passenden Fähigkeiten und nachhaltig reagieren können. Nehmen Sie als konkretes Beispiel Drohnen. Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie schnell die technischen Entwicklungen in diesem Bereich voranschreiten und welchen Einfluss dies auf die Art der Kriegsführung haben kann. Neben der eigentlichen Technologie bedarf es aber auch der Fähigkeit, schnell produzieren und liefern zu können. Dazu braucht es eine belastbare Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, also Infrastruktur und Personal, und damit Industriekapazitäten. Hier hat sich aus meiner Sicht schon viel in die richtige Richtung entwickelt, es besteht aber noch weiterer Handlungsbedarf.
Wie ist die NATONorth Atlantic Treaty Organization heute aufgestellt?
Insgesamt ist die NATONorth Atlantic Treaty Organization bereits heute gut aufgestellt. Wir erkennen aber, dass wir besser werden müssen und nicht stehenbleiben dürfen. Es geht darum, unseren Vorteil gegenüber potenziellen Gegnern weiter aufrechtzuerhalten. Dazu müssen wir uns zukunftsgerichtet aufstellen – das bedeutet die Einbindung neuer Technologien, digitale Transformation und die Befähigung zu Multi-Domain Operationen. Das „Multi-Domain Denken“ geht dabei über die bekannten Operationen verbundener Kräfte zu Land, zu See und in der Luft hinaus.
An welche Domänen denken Sie da?
Neben den drei klassischen Domänen haben wir heute zusätzlich den Cyber- und den Weltraum. Dort agieren in Europa zumeist zivile Betreiber. Das heißt, es braucht die Synchronisierung mit diesen zivilen Akteuren, um entsprechende Effekte zu erzielen. Die 32 NATONorth Atlantic Treaty Organization-Nationen unternehmen große Anstrengungen, um die notwendigen interoperablen Fähigkeiten bereitzustellen. Die USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich tragen dabei mit zusammen 60 Prozent der Fähigkeiten der Allianz die Hauptlast. Das erfolgreiche Modell des Framework Nations Concept bietet kleineren Staaten die Möglichkeit, sich an den großen Nationen als sogenannte Anlehnungsnationen zu orientieren. So leisten auch Mitgliedsländer ihren Beitrag, die nicht das gesamte militärische Spektrum abdecken können. Eine Win-win-Situation für alle Seiten.
Wo schauen Sie beim ACTAllied Command Transformation aktuell besonders genau hin?
Neben der Frage, welche Fähigkeiten wir kurzfristig für den „fight tonight“ brauchen, beschäftigen wir uns damit, wie wir uns für die Konflikte der Zukunft aufstellen müssen. Um die richtigen Fähigkeiten zur richtigen Zeit zur Verfügung stellen zu können, verantworten wir im ACTAllied Command Transformation einen maßgeblichen Teil des NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verteidigungsplanungsprozesses. Dies ist ein kontinuierlicher Zyklus, mit dem Fähigkeitsziele, die sogenannten Capability Targets, in einem transparenten Prozess für die Nationen erarbeitet werden. Diese Prozesse werden von der Bedrohungslage und Entscheidungen auf politischer Ebene abgeleitet.
Eine jüngst erschienene Studie sieht die NATONorth Atlantic Treaty Organization in fast allen relevanten militärischen Bereichen Russland klar überlegen. Warum ist dennoch Nachrüstung erforderlich?
Eine wirksame und glaubhafte Abschreckung setzt voraus, dass wir alle erforderlichen Fähigkeiten in der nötigen Quantität und den nötigen Einsatzbereitschaftsgraden verfügbar haben. Darüber hinaus geht es darum, mit den technologischen Entwicklungen schrittzuhalten. Dies gilt vor allem, aber nicht nur in den Bereichen Cyberraum und Weltraum. Nur durch KIKünstliche Intelligenz-gestützte, vernetzte Systeme, die große Datenmengen in Bruchteilen von Sekunden verarbeiten und aufbereiten können, werden wir in der Zukunft in der Lage sein, die notwendige Informations- und Entscheidungsdominanz aufrechtzuerhalten. Und nur so können wir effektiv abschrecken oder, falls notwendig, uns effektiv verteidigen. Unbemannte und autonome Systeme werden helfen, die Anzahl der notwendigen Soldatinnen und Soldaten und deren Verwundbarkeit zu reduzieren.
Welche Rolle spielt das Mindset der Bevölkerung?
Eine sehr entscheidende Rolle! Verteidigung und Widerstandsfähigkeit sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Damit meine ich explizit jede einzelne und jeden einzelnen, nicht nur Einrichtungen des Staates. Sicherheit kann zukünftig nicht mehr nur Aufgabe der Polizei im Inneren und der Bundeswehr im Rahmen der äußeren Sicherheit sein. Das war sie auch nie. Getreu dem Satz „The army wins the battle, the nation wins the war“ geht es um gesamtstaatliche Resilienz. Unsere Gesellschaften müssen in der Lage sein, strategische Schocks, etwa einen langfristigen Stromausfall aufgrund eines Cyberangriffs auf die kritische Infrastruktur des Staates, bestehen und überwinden zu können. Dieser Wille zur Selbstbehauptung trägt zu einer glaubhaften Abschreckung bei. In der Ukraine sehen wir, wie das geht.
Wo steht Deutschland in dieser Frage?
In Deutschland beginnen wir, spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, zu begreifen, wie wichtig der gesamtgesellschaftliche Ansatz der Verteidigung ist. Andere Nationen der Allianz haben dies aufgrund ihrer regionalen Nähe zu Russland bereits stärker verinnerlicht. Ein Land wie Finnland richtet sich zum Beispiel auf „total defence“ ein. Finnland hat eine ganz andere Bedrohungsperzeption als Deutschland. Dort hat man erkannt, dass die Resilienz der Bevölkerung ein entscheidender Punkt ist, und handelt danach. Das betrifft Investitionen in innere und äußere Sicherheit sowie in die Sensibilisierung und Vorbereitung der Bürgerinnen und Bürger. Mittlerweile lässt sich aber innerhalb der NATONorth Atlantic Treaty Organization beobachten, dass das Bedrohungsbewusstsein ebenfalls steigt.
Zum Abschluss: Haben Sie in diesen turbulenten Zeiten schon mal das Cockpit ihrer F-4 Phantom vermisst?
An keinem Tag. Ich hatte eine großartige Zeit im Cockpit, aber ich schaue nach vorn und nicht zurück. Und ich habe das Privileg, in einer Funktion zu arbeiten, die mich sehr interessiert und ausfüllt.
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