„Was geht noch in Sachen Rüstungskontrolle?“ Diese Frage trieb die Teilnehmenden der Nationalen Rüstungskontrolltagung 2022 am 17. Mai in Berlin um. Ihre Antworten waren teils ernüchternd. Trotzdem bleiben Abrüstung, Nichtverbreitung und Vertrauensbildung auf der politischen Agenda der Bundesrepublik.
Vor dem Hintergrund des Überfalls Russlands auf die Ukraine und dem damit verbundenen, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier benannten „Epochenbruch“ auch für die Rüstungskontrolle, gewann die Tagung eine ganz besondere Bedeutung. Konferenzleiter Ernst-Christoph Meier, Referatsleiter Politik II 5 im BMVgBundesministerium der Verteidigung, versprach zum Start der Veranstaltung im Casino der Julius-Leber-Kaserne in Berlin einen „Parforceritt durch die Rüstungskontrolle“.
Mit sehr realistischem Blick auf die Dinge betonte Meier bei seiner Einführung, angesichts eines dramatischen Vertrauensverlustes des Westens gegenüber Russland wegen des Angriffes auf die Ukraine werde in der Rüstungskontrolle vieles auf absehbare Zeit nicht möglich sein. „Wir werden sehen, wann und mit wem wir wieder werden reden können“, so Meier. Das sei nur mit einem Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen möglich.
Moskau habe aber auf dem Feld der Rüstungskontrolle massiv an Vertrauen verloren. Die maßgeblich durch Russland verschuldete Erosion der Rüstungskontrolle habe lange vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 begonnen. Bei der Demontage wichtiger Verträge, so etwa dem Vertrag über den Offenen Himmel (OHOffener Himmel-Vertrag), dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSEKonventionelle Streitkräfte in Europa) und dem Vertrag über die Begrenzung nuklearer Mittestreckenwaffen INFIntermediate Range Nuclear Forces (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty), habe Moskau eine „unrühmliche Rolle“ gespielt, machte Meier unmissverständlich klar.
„Was also ist nun in der Rüstungskontrolle noch möglich? Was macht nun überhaupt noch Sinn?“ Um diese Fragen kreisten die facettenreichen und vielschichtigen Vorträge, Fragen und Diskussionen. Diese wurden im Geiste einer sehr konstruktiven und vertrauensvollen ressortübergreifenden Zusammenarbeit geführt.
Der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle aus dem Auswärtigen Amt, Günter Sautter, skizzierte die „Schwerpunkte und Perspektiven der Rüstungskontrolle“. Derzeit befinde sich die Rüstungskontrolle in einer Zeit, in der es mehr um Fragen als um Antworten gehe. Rüstungskontrolle sei schwieriger geworden, aber noch viel wichtiger als bisher. Es sei jetzt nicht die Zeit, in Rüstungskontrollgespräche mit Moskau einzutreten, es sei für den Westen eher der Moment der Vorbereitung neuer Initiativen und Positionierungen.
„Entscheidend ist das Timing“, sagte Sautter. Er wies nachdrücklich auf die gegenwärtig laufende Ausarbeitung der nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung hin, bei der es eine traditionell enge Zusammenarbeit der Ressorts der Bundesregierung mit dem Ressort BMVgBundesministerium der Verteidigung gebe. In diesem Kontext hob Sautter hervor, dass seit dem Beginn des Ukraine-Krieges das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an Sicherheit und Verteidigung massiv gestiegen sei.
Schlaglichtartig führte Sautter die Herausforderungen der Zukunft auf. Demnach gehe es darum, Rüstungskontrolle grundlegend neu auszurichten. Sie müsse noch stärker als bisher komplementär angelegt und ein integraler Bestandteil der Sicherheitspolitik sein. Neben der Stärkung militärischer Fähigkeiten, bestmöglicher Ausrüstung der Bundeswehr und nuklearer Teilhalbe Deutschlands müsse die Rüstungskontrolle als die andere Seite der Medaille selbstverständlich mitgedacht werden. Angesichts immer langfristiger angelegter Rüstungsprojekte müsse auch die Rüstungskontrolle langfristiger denken.
Gegenwärtig seien zwar keine schnellen Fortschritte auf dem Feld der Rüstungskontrolle zu erwarten. Gleichwohl sei es wichtig, zu gegebener Zeit zumindest minimale Schritte der Vertrauensbildung mit Moskau zu tun. Dazu biete der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Russland-Rat nach wie vor Möglichkeiten. Es gelte, die strategische Stabilität in Zeiten des Ukraine-Krieges zu erhalten.
Beim Thema Nichtverbreitung von Nuklearwaffen bleibe die Lage schwierig. Russland habe mit seinem Angriffskrieg das Budapester Memorandum vom Tisch gewischt, laut dem die Ukraine auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet hatte, so Sautter. Trotz dieses Tiefschlages gelte es, die Idee der Nichtverbreitung am Leben zu halten, so etwa durch die Rückkehr zum Atom-Abkommen mit dem Iran von 2015.
Die Vertreterin der Deutschen Botschaft in Moskau, Anne Braun, schilderte den Teilnehmenden der Tagung ihre Einschätzungen der russischen Regierung auf dem Feld der Rüstungskontrolle. Nachdem Anfang des Jahres noch Hoffnungen bestanden hätten, dass der Westen mit Moskau bei neuen Initiativen rund um den INFIntermediate Range Nuclear Forces-Vertrag oder bei weiteren Transparenzmaßnahmen vorankommen könnte, hätten sich diese mittlerweile zerschlagen. Es herrsche seit Kriegsbeginn am 24. Februar in der Zusammenarbeit mit Moskau ein „toxisches Klima“. Der russische Staatspräsident Wladimir Putin setze derzeit ganz offensichtlich nicht auf Rüstungskontrolle, sondern auf Abschreckung.
Von der lang respektierten „Gorbatschow-Formel“ der russischen Nuklearstrategie, nach der ein Atomkrieg nicht zu gewinnen und daher nicht zu führen sei, habe sich die russische Regierung abgewandt. Daher stelle sich für die Rüstungskontrolle ernsthaft die Frage: „Was hat überhaupt noch Bestand?“, fragte Braun. Insgesamt zeigte sie sich sehr skeptisch, ob Moskau in naher Zukunft an nuklearer und konventioneller Rüstungskontrolle interessiert sei.
Zum Themenfeld „OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und konventionelle Rüstungskontrolle“ referierten Benjamin Schaller und Sebastian Feyock aus dem Referat Politik II 5 gemeinsam mit Oberst i. G. Carsten Rogat, Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Wien. In diesem Bereich der Rüstungskontrolle gelte gegenwärtig: „No business as usual“, so Schaller. Die Lage sei geprägt von der Aussetzung des Dialogs.
Wichtige Verträge wie der OHOffener Himmel-Vertrag, der KSEKonventionelle Streitkräfte in Europa-Vertrag oder auch das Wiener Dokument müssten nach dem Ausstieg Russlands als beschädigt angesehen werden, so Feyock. Das Ziel sei aber, diese und andere wichtige Instrumente der Rüstungskontrolle zu erhalten. Es gelte, keine irreversiblen Schritte zu unternehmen und den Gegnern der Rüstungskontrolle keine Vorwände zu liefern, die Implementierung von Verträgen zu torpedieren.
Den Aspekt „Kleinwaffenkontrolle“ beleuchtete Laura Lepsy aus dem Referat Politik II 5. Das sei ein Bereich der Rüstungskontrolle, der auch in schwierigen Zeiten wie diesen noch möglich, aber auch angesichts der Gefahren durch die Proliferation von Kleinwaffen dringend notwendig sei.
Hier gebe es durchaus Fortschritte zu verzeichnen. Ziel sei es, Konflikte und Krisen, verursacht durch Kleinwaffen, einzudämmen und Gefahren von Deutschland abzuwenden. Lepsy stellte die im Referat Politik II 5 entwickelten sicherheitspolitischen Kriterien des BMVgBundesministerium der Verteidigung für die Durchführung von künftigen Kleinwaffenprojekten vor. Im Fokus stünden demnach vor allem die Regionen des Westbalkans, Zentralasiens und Westafrikas.
Das Thema „Neue Technologien und Rüstungskontrolle“ erläuterte Marco Fey von Politik II 5. Das BMVgBundesministerium der Verteidigung schenke den neuen Technologien und ihrer militärischen Relevanz besonders große Aufmerksamkeit, so etwa auf den Feldern Weltraumsicherheit, LAWS (Letale Autonome Waffensystem) und Künstliche Intelligenz (KIKünstliche Intelligenz). Letale Autonome Waffensysteme lehne Deutschland ab und trete weiterhin für eine weltweite Ächtung ein.
Im Bereich Weltraumsicherheit und friedlicher Nutzung des Alls sei das BMVgBundesministerium der Verteidigung mit dem Aufbau des neuen Weltraumkommandos der Bundeswehr sehr engagiert. Es gelte, das teils aggressive Engagement Chinas und Russlands, etwa mit Anti-Satelliten-Raketen, im Blick zu behalten.
Den Bereich „Rüstungskontrolle Nichtnukleare Massenvernichtungswaffen“ behandelte Oberstleutnant i. G. Lothar Struck aus dem Referat Politik II 5. Er wies darauf hin, dass die Bundesregierung unter Mitwirkung des BMVgBundesministerium der Verteidigung mit dem deutschen Biosicherheitsprogramm einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des Biowaffenübereinkommens und zur Erhöhung der weltweiten Biosicherheit leiste.
Darüber hinaus gab Struck einen Sachstand und Ausblick zum Chemiewaffenübereinkommen. Auch wenn die deklarierten Chemiewaffen aller Vertragsstaaten voraussichtlich bis Ende 2023 vernichtet sein werden, sei das Übereinkommen und auch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen in den vergangenen Jahren durch mehrmalige Einsätze von Chemiewaffen und eine russische Diskreditierungskampagne zunehmend unter Druck geraten. Ziel sei es, durch politische Unterstützung und Bereitstellung von Fähigkeiten – etwa im Rahmen zweier deutscher Referenzlabore – weiterhin substanziell zum übergeordneten Ziel, einer Welt frei von chemischen Waffen, beizutragen.
Bei seinen Ausführungen zu „Nuklearen Aspekten der Rüstungskontrolle“ wies Konferenzleiter Ernst-Christoph Meier auf den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVVNichtverbreitungsvertrag für Nuklearwaffen) hin. Dieser sei eine wichtige Grundlage für deutsches Regierungshandeln bei der nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung. Es sei positiv, dass die wegen Corona mehrfach verschobene Überprüfungskonferenz nun im August in New York stattfinden werde, auch wenn die Erwartungen an Ergebnisse eher niedrig seien.
Darüber hinaus wies er insbesondere darauf hin, dass die infolge des russischen Angriffskrieges ausgesetzten strategischen Gespräche zwischen USA und Russland es schwierig machten, dass Ziel eines Folgeabkommens für den 2026 auslaufenden New STARTStrategic Arms Reduction Treaty-(Strategic Arms Reduction Treaty) Vertrag zu erreichen. Ein Folgevertrag sei aber für die europäische Sicherheit enorm wichtig, auch um das Problem der nichtstrategischen Nuklearwaffen in Europa, wo Russland eine sehr große Überlegenheit besäße, anzugehen. Perspektivisch sei in der nuklearen Rüstungskontrolle eine Beteiligung der aufstrebenden Atommacht China sinnvoll. Das sei im deutschen Interesse.
Brigadegeneral Michael Schoy, der neue Kommandeur vom Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr, erläuterte die laufenden Aktivitäten des ZVBwZentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr im Bereich der Implementierung von Rüstungskontrollvereinbarungen. Er unterstrich, es dürfe angesichts der Fokussierung auf den Ukraine-Krieg nicht der Fehler gemacht werden, die Erfolge der Rüstungskontrolle zu übersehen.
Ein Beispiel sei die gegenwärtig laufende Zertifizierung des Beobachtungsflugzeuges der Bundeswehr, A319-OHOffener Himmel, im Kontext des OHOffener Himmel-Vertrags. Diese Zertifizierung sei auf einem guten Weg und werde voraussichtlich im November 2022 beendet sein.
Gastgeber Ernst-Christoph Meier richtete abschließend den Blick noch einmal in die Zukunft der Rüstungskontrolle. „Die Chancen, dass über Rüstungskontrolle in Europa wieder verhandelt werden kann, werden unter einer gestärkten NATONorth Atlantic Treaty Organization eher steigen“, sagte er mit Blick auf die laufende Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses und der Beitrittsanträge Finnlands und Schwedens. Das neue strategische Konzept der NATONorth Atlantic Treaty Organization, das auf dem kommenden NATONorth Atlantic Treaty Organization-Gipfel in Madrid im Juni verabschiedet werde, und die geplante Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung würden aller Voraussicht nach den komplementären Ansatz von Verteidigung und Rüstungskontrolle unterstreichen.
Zum Schluss skizzierte Meier drei zentrale sicherheitspolitische Herausforderungen, zu deren Bewältigung auch die Rüstungskontrolle der Zukunft einen Beitrag leisten müsse und werde: die globale nukleare Ordnung, der Vertrauensverlust im OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa-Raum und die Auswirkungen militärisch-technologischer Entwicklungen auf die strategische Stabilität.
Nationale Rüstungskontrolltagung 2022 |
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Die Nationale Rüstungskontrolltagung 2022 wird vom Referat Politik II 5 durchgeführt. Vertreter und Vertreterinnen des BMVgBundesministerium der Verteidigung, aber auch des Auswärtigen Amtes, informieren und tauschen sich bei dieser facettenreichen Fachveranstaltung über die Entwicklungen auf den Feldern Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Vertrauensbildung aus. Die Tagung richtete sich an Fachpersonal im Geschäftsbereich BMVgBundesministerium der Verteidigung sowie an Bundeswehrangehörige, in deren Verantwortung Fragen der Rüstungskontrolle fallen. Die hochkarätige Veranstaltung zeigt aus BMVgBundesministerium der Verteidigung-Sicht Perspektiven der Rüstungskontrolle auf und gibt Orientierung. |
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