Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat am 6. Oktober in Berlin einen ersten Beitrag zum Auftakt einer transparenten Bilanzdebatte über das deutsche Engagement in Afghanistan geleistet. Mit der Veranstaltung „20 Jahre Afghanistan – Startschuss für eine Bilanzdebatte“ leitete sie einen offenen und kritischen Diskussionsprozess ein.
Nachdem der nahezu 20 Jahre dauernde Afghanistan-Einsatz mit dem Ende der beispiellosen Evakuierungsoperation auf dem Kabuler Flughafen am 27. August endgültig zu Ende gegangen war, ist nun die Zeit zur transparenten Aufarbeitung dieses Einsatzes gekommen. Diese soll in einem ganzheitlichen Ansatz erfolgen.
Das machte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Mittwoch in Berlin eindringlich deutlich. Sie sagte in ihrer Rede, diese Veranstaltung sei ein Angebot, den Auftakt zu machen für eine offene und ehrliche Bilanzierung. Damit löste sie ein Versprechen an die Truppe ein. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr hätten bewiesen, dass sie kämpfen könnten. „Afghanistan bewegt uns alle“, sagte die Ministerin mit Blick darauf, dass insgesamt 59 deutsche Soldaten in Afghanistan ihr Leben verloren. „Diese Debatte ist und wird eine spannende sein.“
Kramp-Karrenbauer unterstrich nachdrücklich, dass es wichtig sei, die Debatte „heute“, an diesem Tag, stattfinden zu lassen – vor der besonderen Würdigung der Angehörigen aller 76 Kontingente des 20-jährigen Afghanistan-Einsatzes durch Bundesregierung, Bundestag und den Bundespräsidenten am 13. Oktober. Diese ehrliche Aufarbeitung müsse beginnen, bevor eine Würdigung vorgenommen werden könne.
Besondere Bedeutung kommt bei der Reflexion über den Einsatz der Perspektive der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Einsatz zu. An ihre Adresse sagte die Ministerin einmal mehr, die Truppe habe bei diesem Einsatz alle Aufträge erfüllt, welche das Parlament ihr gegeben habe. Kramp-Karrenbauer betonte: „Afghanistan ist und bleibt ein Thema bis in die aktuelle Stunde hinein.“
Der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, versicherte den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr angesichts der vielfach gestellten Frage nach dem Sinn des Einsatzes: Dieser Einsatz hatte einen Sinn. Die Truppe könne stolz sein auf das, was sie am Hindukusch geleistet habe. Viele Erkenntnisse, die binnen 20 Jahren in Afghanistan gewonnen worden seien, fänden sich heute in den Einsatzgrundsätzen der Bundeswehr wieder. Die persönliche Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten sei angepasst worden. In diversen Bereichen werde aus dem Einsatz gelernt und würden Verbesserungen eingeleitet: so etwa im Veteranen-Wesen.
Zorn warnte, es sei ein Fehler, den Einsatz allein vom Ende her zu beurteilen und auf das Militärische zu reduzieren – nur mit der Bundeswehr zu identifizieren. Er rief zu Augenmaß in der Debatte auf und wies auf den vernetzten Ansatz hin, an dem diverse Ressorts beteiligt gewesen seien. Schließlich müsse man sich nach diesem Einsatz auch kritische Fragen stellen, sagte Zorn. Beispielsweise die, ob die internationale Staatengemeinschaft das Land verstanden habe? Ob sie mit ihrem Engagement Afghanistan überfordert habe?
Schließlich unterstrich Zorn, die Bundeswehr müsse bei der anstehenden Evaluation des Einsatzes in der NATONorth Atlantic Treaty Organization ihren Beitrag leisten. Deshalb sei es gut, dass die Aufarbeitung des Engagements „heute“, an diesem Tag, beginne.
NATONorth Atlantic Treaty Organization-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte in seiner Video-Botschaft: „Es ist eindeutig zu früh, um Schlussfolgerungen zu ziehen.“ Klar sei aber: Die Krise in Afghanistan ändere nichts an der Notwendigkeit, dass die USA und Europa in einer gefährlichen und wettbewerbsintensiven Welt zusammenstehen müssten.
In diesem Kontext wies Stoltenberg unter anderem auf die Wettbewerber Russland und China hin. Der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Generalsekretär betonte, er habe in der Allianz eine gründliche Bewertung des gemeinsamen Engagements veranlasst. Deshalb dankte er der Ministerin ausdrücklich, dass sie nun mit der öffentlichen Auswertung des Afghanistan-Einsatzes beginne.
Stoltenberg drückte der Bundeswehr seinen großen Respekt für ihren Einsatz am Hindukusch aus: „Ich bin allen dankbar, die unter der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Flagge gedient haben.“ Er gedachte dabei zugleich Soldaten und Soldatinnen aller Nationen, die in Afghanistan ihr Leben ließen. Auch 59 deutsche Soldaten kehrten nicht in die Heimat zurück.
Die Veranstaltung war geprägt von einer facettenreichen, differenzierten und kontroversen Debatte, die per Livestream verfolgt werden konnte. Während der Veranstaltung bestand die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Der Diskurs ging von den verschiedenen Panels aus, die das Thema jeweils aus ihrer Perspektive beleuchteten.
Den Themenschwerpunkt „Der Afghanistaneinsatz und die Auswirkungen auf die Bundeswehr“ setzten Brigadegeneral Ansgar Meyer , letzter Führer des deutschen Einsatzkontingents Resolute Support, Brigadegeneral Jens Arlt, Führer der deutschen Kräfte bei der militärischen Evakuierungsoperation aus Kabul, Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam, Oberstleutnant André Wüstner, Bundesvorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes, und Oberstabsfeldwebel Oliver Wendel, ein einsatzerfahrener Kompaniefeldwebel aus dem Fallschirmjägerregiment 26.
Brigadegeneral Ansgar Meyer betonte, das Interesse der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr an der Aufarbeitung dieses Einsatzes sei riesengroß. Deshalb sei es gut, dass diese Debatte jetzt beginne. Brigadegeneral Jens Arlt sagte, abschließende Antworten auf den Einsatz könne es jetzt nicht geben. Fragen seien offen. Er verstehe nach wie vor nicht, warum die afghanische Armee das Land weitgehend kampflos aufgegeben habe.
Oberstleutnant André Wüstner unterstrich: Es gebe einiges aufzuarbeiten. Es sei gut, dass das jetzt geschehe. Es sei im Nachhinein zu hinterfragen, in welcher Phase des Afghanistan-Einsatzes welche politischen Ziele gesetzt worden seien. Sönke Neitzel erwartet eine „sehr interessante Debatte“, wenn im Zuge der Aufarbeitung die am vernetzten Ansatz beteiligten Ressorts miteinander ins Gespräch kämen. Die Bundeswehr sei dabei „vor der Welle“. Oberstabsfeldwebel Oliver Wendel hob die Lehren aus Afghanistan hervor. Es dürfe bei der Neuorientierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung nicht vergessen werden, was die Bundeswehr im Einsatz in Afghanistan gelernt habe.
Dem Thema „Folgen für Militär und Gesellschaft“ wandten sich zu: Generalarzt Ralf Hoffmann, Beauftragter des BMVgBundesministerium der Verteidigung für einsatzbedingte posttraumatische Belastungsstörungen und Einsatztraumatisierte, Generalleutnant a. D. Rainer Glatz, ehemaliger Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr und Sprecher des 15. Beirates für Fragen der Inneren Führung, Reinhold Robbe, ehemaliger Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags, Uwe Trittmann, Studienleitung für Friedensethik, Außen- und Sicherheitspolitik an der Evangelischen Akademie zu Berlin und Villigst (per Video), sowie Winfried Nachtwei, ehemaliger Abgeordneter des Deutschen Bundestages.
Reinhold Robbe mahnte nachdrücklich eine gesamtgesellschaftliche Debatte über den Einsatz in Afghanistan an. Winfried Nachtwei wies darauf hin: Bei den Mandaten müsse die Politik künftig noch stärker auf „konsequente Wirkungsorientierung“ von Einsätzen achten. Generalleutnant a. D. Rainer Glatz unterstrich: Der Afghanistan-Einsatz sei ein multinationaler Einsatz. Es sei dabei um viel mehr gegangen als um Militär. Deshalb dürfe der Einsatz nicht auf das Militärische reduziert werden.
Generalarzt Ralf Hoffmann hielt fest: Der Afghanistan-Einsatz habe dazu beigetragen, dass PTBS gesellschaftlich nicht mehr ausgeblendet werden könne. Uwe Trittmann betonte: Es gebe durchaus eine interessierte Öffentlichkeit, die ein signifikantes Interesse am Afghanistan-Einsatz habe.
Beide Panels moderierte der Journalist Thomas Wiegold.
Aus dem Blickwinkel „Lehren aus Afghanistan für den vernetzten Ansatz – Was hat funktioniert und was nicht?“ schauten auf das Thema: Botschafter Jasper Wieck, Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Auswärtiges Amt, Claudia Warning, Professorin, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Christoph Ehrentraut, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Botschafter a. D. Maurits R. Jochems, ehemaliger NATONorth Atlantic Treaty Organization Senior Civilian Representative in Afghanistan, Ellinor Zeino, Leiterin Auslandsbüro Afghanistan der Konrad-Adenauer-Stiftung, Farzaneh Alizadeh, vor 21 Jahren aus Afghanistan geflohen, und Suzana Lipovac, Gründerin und geschäftsführende Vorstandsvorsitzende von KinderBerg International.
Botschafter Jasper Wieck wies darauf hin: Der vernetzte Ansatz sei Teil „unserer DNA“. Am Afghanistan-Einsatz habe sich dieser Ansatz herausgebildet. Claudia Warning unterstrich: Es sei nicht alles schlecht gewesen in Afghanistan. Künftig seien noch klarer gefasste Mandate und Exit-Strategien erforderlich. Christoph Ehrentraut sagte: Der deutsche Polizeieinsatz in Afghanistan sei in der öffentlichen Wahrnehmung zu kurz gekommen – er hätte mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt.
Maurits R. Jochems erklärte: Beim vernetzten Ansatz müsse Raum für Verbesserungen sein. Hier sei rückblickend das Vorgehen nicht immer klar gewesen. Ellinor Zeino hob hervor: Der vernetzte Ansatz sei in einem Krisenland wie Afghanistan überlebenswichtig. Die Menschen und die Lage vor Ort müssten dabei künftig noch stärker als bisher in den Blick genommen werden. Farzaneh Alizadeh dankte der Bundeswehr dafür, dass sie den Rahmen dafür geschaffen habe, dass Mädchen und Frauen Bildung in Afghanistan ermöglicht werden konnte. Nun aber blicke sie skeptisch in eine ungewisse Zukunft des Landes. Suzana Lipovac sagte: Die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr sei bemerkenswert gewesen. Wir hatten dafür keine Blaupause.
Moderiert wurde dieses Panel von Patrick Keller, Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
Zum Abschluss resümierte die Ministerin mit Blick auf die hohe Teilnehmerzahl und die hochkarätige Besetzung der Panels, dass Bedarf, Interesse und Bereitschaft zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema vorhanden seien. Die Panels seien bewusst „kontrovers“ gewählt worden, so Kramp-Karrenbauer.
Klar sei allen gewesen: Die Aufarbeitung des zwanzigjährigen Afghanistan-Einsatzes stelle eine Herkulesaufgabe dar. Die Ministerin warnte angesichts eines langen Debattenprozesses davor, vorschnell Schlüsse zu ziehen. Zu komplex seien die Erkenntnisse dieses Einsatzes.
Eines sei jedoch schon jetzt klar: Zum in Afghanistan angewandten vernetzten Ansatz gebe es auch in Zukunft keine Alternative. Diesen Ansatz gelte es, weiterzuentwickeln. Wichtig sei, dass die Mission jetzt aufgearbeitet werde – gerade für die Soldatinnen und Soldaten, die derzeit in den weiter laufenden Einsätzen stünden. Afghanistan dürfe nicht einfach abgehakt werden.
Insgesamt dienten rund 93.000 deutsche Soldaten und Soldatinnen in Afghanistan. An ihre Adresse gerichtet sagte die Ministerin: „Ihr Dienst war nicht vergeblich. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan war richtig.“ Die wesentlichen Erkenntnisse aus dieser Auftaktdebatte sollen noch in einem Bericht festgehalten werden.
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