Rede des Bundesministers der Verteidigung, Boris Pistorius, bei der NATONorth Atlantic Treaty Organization Talk Konferenz der Deutschen Atlantischen Gesellschaft in Berlin am 6.November 2023.
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter lieber Christian Schmidt,
meine sehr geehrte Herren Generale und Admirale,
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn ich in diesen Raum schaue, dann sehe ich hier mindestens drei Generationen vertreten. Bevor es einer von Ihnen ausspricht, tue ich es lieber selbst: Ich fürchte, ich muss mich zur ältesten dieser drei Generation zählen.
Es freut mich aber besonders, dass heute bei der NATONorth Atlantic Treaty Organization Talk Konferenz der Deutschen Atlantischen Gesellschaft so viele junge Menschen anwesend sind.
Viele von Ihnen studieren. Sie sind in einem vereinten Deutschland und einem größtenteils friedlichen Europa geboren und aufgewachsen.
Frieden, Stabilität, Kontinuität – unter diesem Motto standen die 90er Jahre.
Was Kriege und Krisen anging, mag man im Nachhinein fast meinen, Deutschland und Europa waren Inseln der Glückseligkeit. In unserer Wahrnehmung und auch geographisch gesehen waren bewaffnete Auseinandersetzungen an die Peripherie gerückt. Es gab sie, sie waren oder schienen aber weit entfernt.
Auch innenpolitisch herrschte große Kontinuität: Diejenigen von Ihnen, die nach 2000 geboren wurden, haben in Deutschland genau zwei Bundeskanzler und eine Bundeskanzlerin erlebt.
Vor allem aber war die geopolitische Realität eine andere. Mit dem Mauerfall und dem friedlichen Ende des Ost-West-Konflikts machte sich die Wahrnehmung breit, dass sich Demokratie immer weiter verbreiten würde.
Die Wahrnehmung, dass sich Staaten auf Basis geteilter Werte gemeinsam transnationalen Herausforderungen annehmen würden. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik war zu großen Teilen gekennzeichnet von internationaler Zusammenarbeit und einer pazifistischen Grundhaltung in der Bevölkerung.
Nach Jahrzehnten der Bedrohung lösten wir die Friedensdividende ein, rückblickend deutlich zu optimistisch.
Infolge der Umbrüche von 1989/90 entwickelte sich die NATONorth Atlantic Treaty Organization zu einem primär politischen Bündnis. Sie verschrieb sich dem Ziel des Vertrauensaufbaus mit ehemaligen Gegnern und stabilisierte den Kontinent durch stetige Erweiterung.
Gleichzeitig engagierte sich die Allianz in Einsätzen außerhalb des Bündnisgebietes. State Building und Auslandseinsätze, das waren die Schwerpunkte unserer Bundeswehr und unserer Verbündeten.
Gleichzeitig haben wir Deutsche gemeinsam mit unseren euroatlantischen Partnern keine Mühen gescheut, eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands aufzubauen - im Rahmen der OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, des NATONorth Atlantic Treaty Organization-Russland-Rats, aber auch mit Hilfe rüstungskontrollpolitischer und vertrauensbildender Instrumente wie dem KSEKonventionelle Streitkräfte in Europa-Vertrag oder dem Wiener Dokument.
Meine Damen und Herren,
heute ist die Realität eine andere als vor 30 Jahren. Kriege und krisenhafte Entwicklungen folgen in immer engerer Taktung, nahezu Schlag auf Schlag. Der Blick auf die Ukraine, Israel, den westlichen Balkan, nach Ostasien oder in die Sahel-Region zeigen Bedrohliches.
Kriege sind von der Peripherie in das Zentrum unserer Wahrnehmung gerückt.
Knallharte Interessenskonflikte, skrupellose Anwendung von Gewalt und daraus resultierende Eskalation sind zunehmend Normalität.
Die Folgen bekommen auch wir zu spüren, denn die Einschläge kommen bedrohlich nahe. Unsere Freiheit und unsere Sicherheit sind immer zerbrechlicher werdende Güter.
Meine Damen und Herren,
was 1990 undenkbar war, ist heute ernüchternde Realität: Es herrscht ein brutaler Krieg mitten in Europa! Das allein ist furchtbar. Doch damit nicht genug: Blanke imperialistische Hegemonialpolitik ist zurück.
Staaten wie Russland oder auf andere Weise China geht es darum, Einflusssphären zu sichern und die internationale Ordnung entlang ihrer Interessen zu formen. Putin geht es darum, mit Mitteln der Gewalt seinen eigenen Einfluss zu vergrößern, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind ihm nicht nur fremd, sie ängstigen ihn.
Das wird nicht nur deutlich am grausamen russischen Krieg gegen die Ukraine, sondern auch in anderen Teilen der Welt. Von Russland bezahlte Wagner-Söldner unterstützen gezielt autoritäre Regime in der Sahel-Region und verbreiten anti-westliche Narrative.
Und es bleibt nicht bei Russland. China tritt weltweit, vor allem aber in seiner direkten Nachbarschaft, immer fordernder und ausgreifender auf.
Die Bedrohung für unsere internationale Ordnung geht aber nicht nur von Großmächten aus, das zeigt die derzeitige Lage im Nahen Osten.
Die terroristische Organisation Hamas hat mit ihrem barbarischen Angriff nicht nur schreckliches Leid über so viele unschuldige Menschen gebracht. Sie hat die bereits instabile Region an den Rand des Abgrunds gebracht. Der Ausgang ist ungewiss, aber bereits jetzt steht fest, dass nichts mehr so sein wird wie es einmal war.
Unser Platz ist dabei völlig klar an der Seite Israels. Wir haben die historische Verantwortung, Israel im Rahmen unserer Möglichkeiten zu unterstützen. Es gibt keinerlei Rechtfertigung für den barbarischen Terrorakt der Hamas. Israel hat das Recht, sich angemessen zu verteidigen.
Bei all diesen Schlaglichtern dürfen wir aber die Zusammenhänge nicht aus den Augen verlieren. Das Handeln Russlands, Chinas, Irans und Nordkoreas ist miteinander verknüpft durch Abhängigkeiten, vergleichbare Narrative und teilweise sogar geteilte Ziele.
Kurz: Die machtpolitischen Zusammenhänge sind komplex und vielschichtig.
Was bedeutet das für unsere Verteidigungspolitik?
Erst einmal heißt es, dass wir mehr tun müssen, um unsere eigene Sicherheit und Freiheit zu verteidigen. Wir werden und wir dürfen nicht zuschauen, wie hegemoniale Kräfte auf der Welt souveränen Staaten und Völkern ihren Willen aufzwingen, ihre territoriale Integrität in Frage stellen. Gemeinsam müssen wir dafür sorgen, dass die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren.
Gemeinsam in einem weltumspannenden Kraftakt, zu dem auch Länder wie Australien beitragen, unterstützen wir die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit, Souveränität und territoriale Integrität.
Jedwedes Einknicken in diesen grundlegenden Prinzipien der modernen Staatenwelt würde eine entsetzliche Präzedenz schaffen!
Und weil wir nicht davon ausgehen können, dass Russland in den kommenden Jahren und Jahrzehnten von seinen imperialen Phantasien ablassen wird, tragen wir im Bündnis maßgeblich zu einer glaubhaften und effektiven Abschreckung bei. Wir tun dies, indem wir die entsprechenden Fähigkeiten aufbauen, vorhalten und der NATONorth Atlantic Treaty Organization zur Befüllung der jüngst beschlossenen Verteidigungspläne zur Verfügung stellen.
Zugleich nehmen wir die Rolle Deutschlands als logistische Drehscheibe im Falle von Truppenbewegungen zur Verteidigung der Ostflanke ernst, indem wir die Anpassung der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Kommando- und Streitkräftestruktur vorantreiben, dabei regionale Verantwortung übernehmen und die Flexibilität unserer Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit sicherstellen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle klar sagen: Die NATONorth Atlantic Treaty Organization hat sich über Jahrzehnte als Garant unserer Sicherheit bewährt!
Die NATONorth Atlantic Treaty Organization hat mit dem brutalen russischen Angriff auf die Ukraine einmal mehr an Relevanz gewonnen.
Ihre Attraktivität für neue Mitglieder ist weiterhin groß, mittlerweile sind wir ein starkes Bündnis mit bald 32 Mitgliedern.
Natürlich muss sich auch das transatlantische Bündnis anpassen an die politischen Realitäten. Der kommende Gipfel in Washington stellt den Höhepunkt des Transformationsprozesses dar, der 2014 begonnen wurde und in dem wir uns bis heute befinden.
Ich schaue mit Zuversicht auf den 75. Geburtstag des Bündnisses: Die Allianz wird fit for purpose sein. Sie wird ihre Perspektive globaler ausgerichtet haben als jemals zuvor, ohne ihren operativen Fokus auf den euro-atlantischen Raum zu verlieren.
Meine Damen und Herren,
Deutschland nimmt im Gefüge der Allianz die Rolle eines aktiven Gestalters ein. Wir tun endlich das, was seit Jahrzehnten gefordert wird.
Wir gehen voran und übernehmen Führungsverantwortung! Das ist für mich Teil der Umsetzung der Zeitenwende.
Die Entscheidung, dauerhaft eine Brigade in Litauen zu stationieren, ist das greifbarste Beispiel hierfür. Wir senden mit der schrittweisen Umsetzung dieser Zusage ein starkes Signal an unsere Verbündeten und Partner und ganz besonders an unsere litauischen Freunde.
So wie wir in der alten Bundesrepublik auf die Rückversicherung und Solidarität der westlichen Alliierten angewiesen waren, brauchen heute die Litauerinnen und Litauer unseren Beistand. Ihr Land ist besonders exponiert gegenüber Russland, mit Grenzen zur russischen Enklave Kaliningrad auf der einen und zum russischen Verbündeten Belarus auf der anderen Seite.
Das ist eine besondere Bedrohungssituation und wäre im Verteidigungsfall eine existentielle Herausforderung. Deshalb werden wir glaubhaft unsere Entschlossenheit zeigen, die litauische Grenze, die Ostflanke insgesamt und damit das Bündnisgebiet zu verteidigen: Landesverteidigung ist für uns Bündnisverteidigung!
Die Zeitenwende und speziell die Stationierung der Brigade in Litauen stellen große Anforderungen an die gesamte Bundeswehr: Dessen bin ich mir bewusst. Ich will auch nicht verschweigen, dass noch einiges an Arbeit vor uns liegt. Aber ich bin überzeugt: Sie ist der richtige Schritt.
Meine Damen und Herren,
wir wären naiv, wenn wir unseren Blick einzig auf Europa richten würden, auch wenn das für den Einen oder Anderen bequem erscheint. Auch an anderen Orten finden geopolitische Machtverschiebungen statt.
Nehmen wir den Indo-Pazifik: Eine Weltregion, die für uns und besonders auch für unsere Verbündeten eine immense wirtschaftliche und politische Bedeutung hat. Nicht nur weil wir als Exportnation ein Interesse an sicheren Lieferwegen und Seewegen haben, sondern auch weil ein immer selbstbewusster auftretendes China zu einer wachsensen Herausforderung für uns und unsere Partner wird.
Lassen Sie es mich in aller Deutlichkeit sagen: Eben weil unsere Interessen auch im Indo-Pazifik betroffen sind, engagieren wir uns auch dort sichtbarer.
Das tun wir mit den regelmäßigen Indo-Pacific Deployments der Bundeswehr. Auch im kommenden Jahr werden wir uns mit einer Fregatte und einem Einsatzgruppenversorger an der Überwachung der Einhaltung von VNVereinte Nationen-Sanktionen gegen Nordkorea sowie am Schutz der freien Seeschiffahrt im Indo-Pazifik beteiligen.
Mit dieser Präsenz, gemeinsamen Übungen und Hafenbesuchen rücken wir näher an Indien, Australien, Südkorea, Japan und Singapur als jemals vorher.
Wenn wir uns für unsere Interessen und die unserer Partner engagieren, dann kann dies auch bedeuten, dass wir die Zusammenarbeit mit regionalen Akteuren suchen, die nicht zu 100 Prozent unsere Werte teilen.
Das bedeutet nicht, kritikwürdige Entwicklungen auszublenden. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung von Menschenrechten sind wichtige Grundlagen unseres Selbstverständnisses.
Es bedarf aber zugleich eines ausgewogenen Realismus und strategischen Weitblicks - übrigens auch bei der Ausrichtung unserer Rüstungsexportkontrollpolitik. Das erfordern nicht zuletzt die geopolitischen Umstände.
Deutschland ist in den letzten Monaten und Jahren sicherheitspolitisch erwachsener geworden. Wir sehen den großen Herausforderungen mutiger und entschlossener entgegen.
Das reicht angesichts von Krisen und Kriegen direkt vor unserer Haustür aber noch nicht. Wir brauchen einen echten und tiefgreifenden Mentalitätswechsel, was den Umgang mit Sicherheitsfragen angeht.
Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, so schwer das fällt und so unschön das auch für jemanden wie mich ist, der in Frieden groß geworden ist, dass die reale Gefahr eines Krieges drohen kann.
Daran führt kein Weg vorbei.
Und gleichzeitig reicht das natürlich nicht. Das Bewusstsein hierfür muss sich in strategischen Grundlagendokumenten und den Köpfen der handelnden Personen festsetzen. Wir brauchen diesen Mentalitätswechsel in der Bundeswehr: Hier ist er bereits in vollem Gange. Wir brauchen ihn aber auch in der Gesellschaft und in der Politik.
Ende dieser Woche versammeln sich bei der Bundeswehrtagung die höchsten Führungskräfte der Bundeswehr in Berlin. Bei dem Treffen werden wir all diese Themen diskutieren und voranbringen.
Außerdem werden wir die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien herausgeben, die an die im Sommer veröffentlichte Nationale Sicherheitsstrategie anschließen werden. Sie bilden das Grundlagendokument der Zeitenwende für die Bundeswehr.
Meine Damen und Herren,
Ein solcher Mentalitätswechsel ist ein langer Weg. Wir kommen aus 30 Jahren Frieden und müssen uns jetzt an eine neue Situation gewöhnen.
Um diesen Weg erfolgreich zu beschreiten, brauchen wir Sie alle. Und hier spreche ich auch explizit die jungen Menschen im Raum an: Sie alle tragen Ihren Teil dazu bei, für die Sicherheit dieser und zukünftiger Generationen zu sorgen! Denn die Weichenstellung, die wir heute vornehmen, entscheiden über unsere Sicherheit morgen. Und die Weichenstellungen, die wir heute aus Zögerlichkeit versäumen, können die Sicherheit kommender Generationen gefährden.
Ich fordere Sie daher auf: Tragen Sie dazu bei, diesen Mentalitätswechsel in unsere Gesellschaft zu transportieren. Ohne Alarmismus, ohne Kriegsrhetorik, aber mit der erforderlichen Klarheit. Nur eine Gesellschaft, die versteht, welchen Preis Sicherheit hat, ist auch bereit, dafür etwas zu tun.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Deutsche Atlantische Gesellschaft immer wieder so viele kluge Köpfe zusammenbringt, um sicherheitspolitische Fragen zu diskutieren.
Wir brauchen solche Foren jetzt mehr denn je, in denen wir sachlich und fachlich fundiert in den Austausch kommen, Positionen erklären, Ideen entwickeln. Das ist das, worauf es ankommt.
Es geht um die Zukunft unserer Verteidigungsfähigkeit. Es geht um die Zukunft unserer Bundeswehr. Und es geht um die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland.
Vielen Dank.
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