Die Ministerin betont den Wert der NATONorth Atlantic Treaty Organization als Sicherheitsgarant. Die europäische Säule in der Allianz müsse gestärkt, die EUEuropäische Union handlungsfähiger gemacht werden. Im neuen Strategischen Konzept stehe Deutschland zum 360 Grad-Ansatz, der den Schutz des Südens einschließe. Es gelte, Kiew bei der Verteidigung gemeinsamer Werte gemeinsam zu unterstützen.
Die NATONorth Atlantic Treaty Organization wird auf dem Gipfel in Madrid ihr strategisches Konzept überprüfen. Spanien hat gefordert, die südliche Flanke angesichts der Sicherheitsbedrohungen aus Afrika zu stärken, die es als dieselben ansieht wie die aus dem Osten, einschließlich der politischen Nutzung der Energieversorgung, des radikalen dschihadistischen Terrorismus in der Sahelzone und der Cyberangriffe. Unterstützt Deutschland diese Forderung?
Deutschland steht ganz klar hinter dem 360-Grad-Ansatz der NATONorth Atlantic Treaty Organization. Das aktualisierte strategische Konzept trägt natürlich auch den Herausforderungen im Süden Rechnung. Einen Gegensatz Ost versus Süd halte ich generell für wenig sinnvoll. Wir sind ein Bündnis. Artikel fünf gilt für alle Himmelsrichtungen. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat übrigens auch Auswirkungen auf den Süden, Stichwort Ernährungssicherheit.
Die NATONorth Atlantic Treaty Organization schuldet Spanien auch insofern etwas, als die Sicherheit der Städte Ceuta und Melilla von ihrem Aktionsradius ausgeschlossen ist. Hat Spanien dies bei seinen Partnern angesprochen?
Zum einen ist es eine große Tragödie, was an der Grenze von Marokko und Melilla in den vergangenen Tagen geschehen ist. Uns erreichen verstörende Bilder. Die Ereignisse müssen aufgeklärt werden. Aber natürlich tauschen wir uns zu einer großen Bandbreite von Themen aus, auch hybriden Bedrohungen. Aber die Frage Grenzschutz verorte ich eher bei den EUEuropäische Union-Innenministern und weniger bei der Verteidigungsplanung der NATONorth Atlantic Treaty Organization.
Die Invasion in der Ukraine hat die Debatte über die europäische Sicherheitsarchitektur neu entfacht: Ist es an der Zeit, Frankreichs Vorschlag zu unterstützen und die strategische Autonomie der EUEuropäische Union voranzutreiben?
Putins Krieg zeigt, welchen Wert die NATONorth Atlantic Treaty Organization hat. Die Allianz ist und bleibt unser Sicherheitsgarant. Aber Europa muss perspektivisch eigene Antworten auf Sicherheitsfragen geben können. Für mich bleibt entscheidend, zum einen die europäische Säule in der NATONorth Atlantic Treaty Organization zu stärken und zum anderen die EUEuropäische Union handlungsfähiger zu machen. Mit dem strategischen Kompass haben wir die Entwicklung vorangetrieben. Da gehen wir endlich in die richtige Richtung. Wir sind mitten drin in der Umsetzung.
Der Krieg in der Ukraine zieht sich in die Länge, und wenn es, wie Präsident Selenskyj sagt, sein Ziel ist, alle von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern, könnte sich das Ende des Konfliktes über Jahre hinziehen oder nie eintreten. Kann sich Europa einen Krieg ohne Ende an seinen Grenzen leisten? Wie lauten die Prognosen Ihrer Militärberater?
Die Ukraine selbst definiert ihre Ziele in diesem furchtbaren Krieg. Wir wollen und dürfen da keine Vorgaben machen. Auch unsere Werte werden gerade in der Ukraine verteidigt. Fest steht: Putin hat sich verkalkuliert. Sein schneller Angriff auf Kiew ist kläglich gescheitert. Er hat die Sicherheitsordnung, der sich Russland selbst über Jahrzehnte verpflichtet hat, zertrümmert. Seit einigen Wochen beobachten wir jetzt eine Kräftemassierung auf beiden Seiten in der Ostukraine. Russland führt dort seinen Angriff mit dem massiven Einsatz von Artillerie fort, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Es ist schwer abzuschätzen, wie lange dieser Krieg noch fortgesetzt wird.
Wird die Interpretation des Konfliktes in der Ukraine durch die NATONorth Atlantic Treaty Organization letztendlich dazu zwingen, ihre Beziehungen zu Russland und ihre Osterweiterung selbstkritisch zu betrachten oder ist die Geschichte bereits geschrieben?
Wir haben Russland in der NATONorth Atlantic Treaty Organization lange als Partner begriffen. Stichworte waren NATONorth Atlantic Treaty Organization-Russland-Grundakte, Deklaration von Rom, NATONorth Atlantic Treaty Organization-Russland-Rat. Die NATONorth Atlantic Treaty Organization hatte Russland die Hand ausgestreckt. Trotzdem hat Putin die Ukraine am 24. Februar anlasslos überfallen. Die NATONorth Atlantic Treaty Organization und ihre Mitglieder haben diplomatisch alles versucht, um dies zu verhindern. Ich erinnere an die Treffen in Genf und den Besuch von Kanzler Scholz zu Gesprächen kurz vor Kriegsausbruch im Kreml. Putin hat uns alle belogen. Deshalb haben wir gehandelt und wir werden unsere Ostflanke weiter stärken.
Deutschland liefert Waffen an die Ukraine und wird ukrainische Soldaten auf seinem Boden ausbilden. Was ist der Unterschied zwischen dem und einer Beteiligung am Krieg?
Hier ist es wichtig zu unterscheiden. Direkt nach Kriegsbeginn hat die Bundeswehr die Präsenz an der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ostflanke, auf Bündnisgebiet, verstärkt – in Litauen, Rumänien und der Slowakei. Über den deutsch-litauischen Vorschlag einer weiteren Verstärkung wird hier in Madrid entschieden. Und gleichzeitig ist für die Unterstützung der Ukraine klar: Wir machen das in engem Austausch mit unseren Partnern und Verbündeten. So haben wir mit den Niederlanden ein Paket mit der Panzerhaubitze 2000 geschnürt. Die werden inzwischen in der Ukraine eingesetzt.
Gemeinsam mit den USA und Großbritannien liefern wir demnächst Mehrfachraketenwerfer. Wesentlich ist also, dass wir die Ukraine gemeinsam in ihrem mutigen Kampf unterstützen. Da haben wir uns als Deutschland, aber auch als NATONorth Atlantic Treaty Organization klar und eindeutig positioniert. Genauso klar ist aber für die Bundesregierung und die Allianz auch, dass wir nicht selbst Kriegspartei werden dürfen. Und auch darauf haben wir uns festgelegt.
Man hat das trotzdem das Gefühl, dass Deutschland zu vorsichtig mit Waffenlieferungen an die Ukraine ist. Hat das etwas mit der ständigen Kritik von Präsident Selenskyj, von Ländern wie Polen oder sogar vom Koalitionspartner, der einst pazifistischen Partei der Grünen, zu tun?
Erst vergangene Woche wurde die umfangreiche Liste deutscher Unterstützungsleistungen für die Ukraine veröffentlicht. Jeder kann sie einsehen und sich seine Meinung dazu bilden. Präsident Selenskyj hat Kanzler Scholz bei seinem Besuch in Kiew für die deutsche Unterstützung ausdrücklich gedankt. So haben sich auch mein US-Kollege Lloyd Austin und der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Resnikow kürzlich beim NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verteidigungsministertreffen geäußert.
Seien Sie sich sicher, dass wir alles tun, was vertretbar ist. Aber unsere eigene Wehrhaftigkeit darf dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Was allen Beteiligten klar ist: Für Deutschland ist die Zeitenwende Realität. Heute vor vier Monaten wurde sie vom Bundeskanzler im Parlament eingeläutet. Im Angesicht des russischen Angriffs auf die Ukraine haben wir gebrochen mit einer über Jahrzehnte praktizierten Politik. Erstmals liefern wir Waffen in ein Kriegsgebiet, schaffen ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr zusätzlich zum Verteidigungshaushalt und erstellen derzeit erstmals eine nationale Sicherheitsstrategie.
In den spanischen Medien wurde berichtet, dass Deutschland sein Veto gegen eine größere Lieferung von Militärgütern durch Spanien an die Ukraine eingelegt hat. Stimmt das oder war das ein Missverständnis? Was ist wirklich passiert?
Die Pressemeldungen sind mir bekannt, ein Antrag der spanischen Regierung dazu aber nicht.
Deutschland hat ein Tabu gebrochen, indem es einen 100-Milliarden-Euro-Fonds für die Modernisierung seiner Armee bereitstellt. Wo soll man anfangen?
Es geht um die gesamte Bandbreite der Ausstattung der Bundeswehr. Von der persönlichen Schutzausstattung, Funkgeräten und Nachtsichtgeräten bis zum Schweren Transporthubschrauber, bewaffneten Drohnen und der Tornado-Nachfolge. All dies, um uns in der Landes- und Bündnisverteidigung aufzustellen und unsere Zusagen im Bündnis auch künftig noch besser untermauern zu können.
Ist es vorrangig, dass künftige Investitionen in Milliardenhöhe der Wiederbelebung der europäischen Rüstungsindustrie dienen, oder sind Zukäufe aus den Vereinigten Staaten, aus welchen Gründen auch immer, unvermeidlich?
In Europa sind wir dank des strategischen Kompasses gemeinsam auf einem guten Weg. Aber der ist noch lang und steinig. Ich habe trotzdem das Gefühl, in Brüssel und den Hauptstädten tut sich gerade etwas. Nicht mehr nur gemeinsam forschen und entwickeln wie bisher, sondern wir müssen gemeinsam beschaffen und dies mit konkreten finanziellen Anreizen unterlegen. Daher sollten sich die EUEuropäische Union-Verteidigungsminister zukünftig regelmäßig zu Beschaffung und Rüstungskooperation treffen. Dazu gehört für uns aber auch, vermehrt auf marktverfügbare Lösungen zurückzugreifen und nicht alles neu entwickeln zu lassen.
Die Zahl von 100 Milliarden ist so beeindruckend, dass entweder das deutsche Militär am Boden liegt oder Deutschland als Macht wiedergeboren werden soll. Was ist der Fall?
In den vergangenen Jahrzehnten wurde bei unseren Streitkräften massiv gespart. Deutschland fühlte sich von Freunden und Verbündeten umgeben, Auslandseinsätze wurden in fernen Ländern geführt. Jetzt konzentrieren wir uns wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung. Es geht um Ausrüstung, nicht Aufrüstung. Die entstandenen Lücken in der Bundeswehr müssen schnell geschlossen werden, um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr und damit eine wirksame Abschreckung zu gewährleisten. Putin und sein Krieg zwingen uns dazu.
Joe Biden ist Sozialdemokrat, in der EUEuropäische Union gibt es mehrere sozialdemokratische Ministerpräsidenten, auch in Spanien und Deutschland, und die Regierungschefs Schwedens und Finnlands, die jetzt die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Mitgliedschaft anstreben, gehören ebenfalls zu dieser ideologischen Familie. Befürchten Sie nicht, dass der Krieg in der Ukraine die Sozialdemokratie mit Militarismus in Verbindung bringen wird? Ist die Ostpolitik Willy Brandts für immer Vergangenheit?
Von Militarismus kann überhaupt keine Rede sein. Aber wir müssen unsere Demokratie und unsere Werte im Ernstfall militärisch verteidigen können und Aggressoren wirksam abschrecken. Dass dies keine abstrakte Gefahr ist, hat uns Putins brutaler und skrupelloser Angriffskrieg gegen die Ukraine schmerzhaft vor Augen geführt.
Dieses Interview erschien zuerst am 29. Juni 2022 in gekürzter Fassung in der spanischen Tageszeitung ,,El Mundo“.
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