„Wir müssen uns darüber freuen, stärkere Streitkräfte zu haben“
Aktualisierte Version vom 21.09.2023
In einem gemeinsamen Gespräch mit „Le Monde“ – eine seltene Angelegenheit – gehen der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu und sein deutscher Amtskollege Boris Pistorius auf ihre jeweiligen militärpolitischen Prioritäten vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine ein. Unter anderem erkennen sie eine beachtliche Meinungsverschiedenheit über den europäischen Raketenabwehrschirm an.
Der Minister für die Streitkräfte, Sébastien Lecornu, wird seinen Amtskollegen Boris Pistorius auf dem Stützpunkt von Évreux am Donnerstag, dem 21. September empfangen, um das deutsch-französische Kampfpanzerprojekt MGCSMain Ground Combat System (Main Ground Combat System) wiederzubeleben. Der Termin bietet die Gelegenheit, Unstimmigkeiten in der Verteidigungspolitik zu besprechen, die die Beziehungen zwischen beiden Ländern belasten.
In der deutschen Presse war vor einigen Tagen von einem neuen Vorhaben zur Entwicklung eines europäischen Panzers zwischen Deutschland, Spanien und Italien die Rede. Das hat in Frankreich Unruhe gestiftet. Steht dieses Vorhaben in Konkurrenz zur deutsch-französischen MGCSMain Ground Combat System (Main Ground Combat System), das 2017 gestartet worden ist und zurzeit stillsteht?
Boris Pistorius (BP): Es stimmt, es gibt ein EUEuropäische Union-Projekt zur Entwicklung eines modernen Kampfpanzers. Es handelt sich aber nicht um ein staatliches Projekt. Vielmehr beteiligen sich private Rüstungskonzerne daran. Aus unserer Sicht ist dieses EUEuropäische Union-Projekt aber keine Alternative zum deutsch-französischen Vorhaben MGCSMain Ground Combat System. Sébastien Lecornu und ich sind entschlossen, MGCSMain Ground Combat System weiter voranzutreiben und damit die Grundlage für eines der modernsten Panzersysteme zu legen. Wir und unsere Teams kommen daher sehr regelmäßig zu intensiven Gesprächen zusammen. Unsere gemeinsame Idee ist, dass wir MGCSMain Ground Combat System offen gestalten, sodass sich andere EUEuropäische Union-Mitgliedstaaten, andere Partner im Laufe der Zeit anschließen können.
Der politische Wille, bei MGCSMain Ground Combat System zu einem erfolgreichen Ergebnis kommen zu wollen, ist spürbar. Komplizierter ist aber die Lage zwischen der französischen Industrieseite mit Nexter und deren deutschem Partner Rheinmetall und KMW. Was kann man tun, damit sie sich einigen?
BP: Die Rüstungskonzerne setzen sich ihre eigenen Ziele. MGCSMain Ground Combat System ist jedoch ein Projekt, das von der deutschen und der französischen Regierungsseite getragen wird. Die beiden Regierungen geben also den Takt vor. Wir entscheiden gemeinsam, wie und in welchen Stufen das Projekt realisiert wird. Wir werden selbstverständlich weiter mit den Rüstungskonzernen zusammenarbeiten und damit die Bedingungen für alle Projektteilnehmer gemeinsam definieren.
Sébastien Lecornu (SL): Die Staaten müssen die Leistungsanforderungen definieren, denn die Staaten sind die Kunden, in Vertretung ihrer eigenen Streitkräfte. Zusammen mit Boris Pistorius haben wir eine pragmatische Entscheidung zum Ansatz, zur Methodik getroffen, genau wie wir für FCASFuture Combat Air System eine Entscheidung getroffen hatten. Diese besteht darin, dass unsere Landstreitkräfte im Dialog stehen, um sicherzustellen, dass wir den gleichen Panzer brauchen. Es geht hier um einen Panzer für die kommenden 30, 40, 50 Jahre. Mit MGCSMain Ground Combat System handelt es sich nicht nur um die Nachfolge des deutschen Leopard oder des französischen Leclerc, sondern um die Definition eines Waffensystems neuer Generation mit beachtlichen technologischen Umbrüchen. Am Donnerstag werden wir in Évreux die von den Kommandos unserer beiden Heere formulierten taktischen Anforderungen politisch bestätigen. Auf dieser Grundlage werden wir „Verantwortungspillars“ festlegen, zur Feuerfähigkeit [Wirkmittel des Kampfpanzers], zur Konnektivität und so weiter.
Bis wann sollen die ersten MGCSMain Ground Combat System-Systeme geliefert werden?
SL: Wir werden einen Zeitplan festlegen, der den Bedarf aller Beteiligten berücksichtigt. Den Bedarf DEUEuropäische Union, nach Lieferungen an die Ukraine einen Teil seiner Panzertruppe zu erneuern. Aber auch den Bedarf FRA, das einen Teil seiner Kampfpanzer Leclerc überholen lässt, damit sie auch nach 2040 einsatzbereit sind. Wir müssen also einen Zeitplan für MGCSMain Ground Combat System haben, der das Ende des Lebeszyklus des Leopard und des Leclerc berücksichtigt. Das französische Streitkräftefinanzierungsgesetz [2024-2023] hat das Projekt bereits mit fast einer halben Milliarde finanziell ausgestattet.
Vor einem Jahr hat Deutschland die ESSIEuropean Sky Shield Initiative-Initiative zur Einrichtung eines Raketenabwehrschirms gestartet, die durch die gemeinsame Beschaffung von deutschen, amerikanischen und israelischen Systemen zustande kommen soll. Das hatte Paris verstimmt. Was ist der aktuelle Stand?
BP: 19 Länder haben sich der European Sky Shield Initiative angeschlossen, darunter auch Österreich und die Schweiz, die neutral sind. Zwei weitere Länder haben bereits Interesse bekundet. Uns geht es darum, dass wir möglichst schnell einen Schutzschirm über Europa gespannt haben. Wir sind bereit, nichteuropäische Systeme einzukaufen, bis wir in Europa eigene Systeme entwickelt haben. Es ist ein offenes Projekt, das natürlich gerade auch unseren französischen Freunden offensteht.
Vor dem Sommer hat Frankreich angekündigt, auf eine Teilnahme an diesem Projekt zu verzichten. Ist das noch der Fall?
SL: Mit der Konferenz zur Luftverteidigung für Europa, die Frankreich im Juni mit 17 europäischen Staaten ausgerichtet hat haben wir die Luftverteidigung in Europa ganzheitlich thematisiert. Diese Initiative beschränkt sich nicht auf die bodengestützte Raketenabwehr, sondern betrachtet alle Komponenten der Luftverteidigung, von der Drohnenabwehr über die Luft-Luft-Abwehr bis zum außeratmosphärischen Weltraum.
Gerade beim außeratmosphärischen Weltraum stellt sich die heikle Frage der Verknüpfung mit der nuklearen Abschreckung. Als nukleare Macht muss sich Frankreich diese Frage stellen, genau wie GBR und die USA. Zu einer Zeit, in der die europäischen Steuerzahler hohe Ausgaben haben, und in der Europa eher die europäische Verteidigungsindustrie bevorzugen will, werden Sie aber wohl wie ich feststellen müssen, dass die Beschaffung des amerikanischen PatriotPhased Array Tracking Radar to Intercept on Target-Systems unsere Autonomie nicht gerade stärkt.
Was sagt Berlin all denen, insbesondere in Frankreich, die Deutschland als Trojanisches Pferd der amerikanischen Rüstungsindustrie in Europa sehen?
BP: Wir dürfen keine Zeit verlieren, um uns auszurüsten und zu schützen. Aus diesem Grund haben wir in Deutschland entschieden, Gas zu geben. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro [von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022, drei Tagen nach dem Angriff auf die Ukraine angekündigt] hilft uns, in dringend benötigte Systeme zu investieren.
Die europäische Rüstungsindustrie, auch die französische, ist hier natürlich ein wichtiger Partner – aber sie kann eben nicht alles liefern, was wir brauchen. Und zu den USA kann ich nur sagen: Sie sind unsere Verbündeten, unser größter Partner innerhalb der NATONorth Atlantic Treaty Organization. Es ist damit vollkommen vertretbar, amerikanische Systeme zu beschaffen – und umgekehrt, dass wir unseren US-amerikanischen Freunden Waffen verkaufen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat Folgendes angekündigt: „Deutschland wird in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der NATONorth Atlantic Treaty Organization verfügen“. Was heißt hier „bald“?
BP: Ich kann Ihnen keinen Termin nennen. Was wichtig ist, ist das übergeordnete Ziel: Angesicht der aktuellen Entwicklungen müssen wir unsere Fähigkeiten anpassen. Es liegt in unserem Interesse, aber auch im Interesse unserer europäischen Partner und NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verbündeten, dass wir über Streitkräfte verfügen, die auf jede Art von Bedrohung reagieren können.
Freut sich Frankreich darüber, dass die Bundeswehr sich zu einer der größten Armee Europas entwickelt?
SL: Wir sind eine Atommacht, daher wird unser Streitkräftemodell immer leicht von dem Streitkräftemodell anderer Länder abweichen. Warum haben wir weniger Leclerc-Kampfpanzer als die Bundeswehr Leopard hat? Aus dem Grund, dass wir seit den 60er-Jahren ein Modell von konventionellen Streitkräften entwickelt haben, das auf Auslandseinsätze ausgerichtet ist. Dabei wurde die Verteidigung unserer vitalen Interessen durch unsere nukleare Abschreckung sichergestellt.
Dabei ist es aber zu begrüßen, dass die anderen europäischen Mächte auch über stärkere Streitkräfte verfügen. Deutschland ist nun sehr ambitioniert. Ich respektiere zutiefst diesen Anspruch, diese Ambition, denn die Bedrohungen, vor denen Deutschland steht, können auch Frankreich betreffen und umgekehrt.
Am 27.02.2022, drei Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, hat Olaf Scholz die Einrichtung eines mit 100 Milliarden dotierten Sondervermögens angekündigt, um die Bundeswehr zu modernisieren. Anderthalb Jahre nach der Einrichtung des Sondervermögens, welcher Anteil wurde bereits ausgegeben?
BP: Bis Ende des Jahres werden wir zwei Drittel des Sondervermögens vertraglich gebunden haben. Wir wollen damit US-Kampfflugzeuge vom Typ F-35 beschaffen oder das weltraumbasierte Frühwarnsystem TWISTERTimely Warning and Interception with Space-based TheatER Surveillance. Bis die Verträge gemacht sind und die Produktion abgeschlossen ist und die neuen Systeme auf dem Hof stehen, vergehen in der Regel Jahre. Wir gehen davon aus, dass wir das Sondervermögen bis 2027, spätestens bis 2028 vollständig aufgebraucht haben.
BK Scholz hat angekündigt, dass Deutschland 2024 das Zwei-Prozent-Ziel der NATONorth Atlantic Treaty Organization erreichen wird. Das wird durch das Sondervermögen möglich sein. Was passiert danach, wenn das Sondervermögen aufgebraucht ist?
BP: Wir haben vereinbart, dass wir das Zwei-Prozent-Ziel im mehrjährigen Durchschnitt von fünf Jahren erreichen. Das kann bedeuten, dass wir in manchen Jahren oberhalb dieses Zieles und in manchen Jahren auch etwas darunterliegen können. Hauptsache, wir kommen im Jahresdurchschnitt auf zwei Prozent. Eines ist aber klar: Auch wenn das Sondervermögen aufgebraucht sein wird, werden wir das Zwei-Prozent-Ziel erreichen. Der gemeinsame Beschluss vom NATONorth Atlantic Treaty Organization-Gipfel in Vilnius [im vergangenen Juli] unterstreicht diese Absicht sehr deutlich.
DEU hat im Juni die Entsendung einer Brigade mit 4.000 Mann nach Litauen angekündigt. Aber viele innerhalb der Bundeswehr und der NATONorth Atlantic Treaty Organization zweifeln an der Machbarkeit. Haben Sie einen genauen Zeitplan?
BP: Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs [im Jahr 1991] war Westdeutschland die Ostflanke der NATONorth Atlantic Treaty Organization. Sie wurde von NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verbündeten geschützt. Jetzt sind uns unserer Verantwortung bewusst und nehmen sie vollumfänglich wahr. Wir wollen unseren Teil zur Verteidigung der Ostflanke beitragen. Das ist das Ziel der Brigade in Litauen. Bis Jahresende werden wir gemeinsam mit unseren litauischen Freunden eine Roadmap erarbeiten. Klar ist: Wir werden eine beachtliche Infrastruktur für die Brigade Litauen brauchen: Unterkünfte und Übungsplätze für die Soldatinnen und Soldaten, aber zum Beispiel auch Schulen für deren Kinder. Es ist ein Mammutprojekt, das die Bundeswehr vor neue Herausforderungen stellt. Ich bin sicher, dass wir diese meistern werden.
FRA und GBR liefern seit dem Frühsommer Marschflugkörper (SCALPSystème de Croisière Autonome à Longue Portée und Storm Shadow) an die Ukraine. Berlin weigert sich weiterhin, die entsprechenden deutschen Systeme zu liefern (TAURUSTarget Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System). Warum?
BP: Nein, wir weigern uns nicht, Marschflugkörper abzugeben. Wir prüfen die Anfrage und deren Folgen. Dabei gilt es zum Beispiel rechtliche oder auch technische Aspekte zu berücksichtigen. Ich bin mir bewusst, dass dies Zeit in Anspruch nimmt. Bei den TAURUSTarget Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System-Marschflugkörpern handelt sich um Waffensysteme mit einer sehr großen Reichweite. Mir ist klar, welche Vorteile sie unseren ukrainischen Freunden bieten können. Gleichzeitig ist es unsere Pflicht, alle Fragen gründlich abzuwägen.
Im Übrigen ist Deutschland zweitgrößter Unterstützer der Ukraine, größter in Europa. Wir liefern zahlreiche wichtige Waffensysteme – insbesondere für die Luftverteidigung – aber auch sehr viel Munition. All das rettet in der Ukraine Tag für Tag Menschenleben.
Dass Kiew sich dazu verpflichtet hat, diese Marschflugkörper nicht außerhalb des ukrainischen Staatsgebietes einzusetzen, reicht Ihnen nicht?
BP: Diese Verpflichtung ist natürlich sehr wichtig, aber es ist nicht der einzige Prüffaktor.
Russische Drohnen sind in den letzten Wochen mehrmals auf rumänisches Staatsgebiet „gefallen“, abgestürzt. Warum reagiert die NATONorth Atlantic Treaty Organization nicht stärker?
BP: Das klingt, als ob wir nichts täten. Das stimmt nicht. Wir stehen in engem Kontakt mit Rumänien, das uns um Unterstützung gebeten hat, wollen aber gleichzeitig keine Überreaktion verursachen. Wir verfolgen diese Entwicklungen und sind unseren Verbündeten gegenüber solidarisch. Das Entscheidende: Wir stimmen uns in Ruhe ab, um dem rumänischen Luftraum den Schutz zu gewährleisten, der notwendig ist.
SL: Frankreich verurteilt selbstverständlich jeglichen Angriff auf die Sicherheit seiner Verbündeten. Wir haben bereits Flugabwehrmittel mit einer SAMP/T Batterie stationiert, zur Sicherung eines Teils des rumänischen Luftraumes. Es sind leider Kollateralschäden des Krieges in der Ukraine. Diese Vorfälle zeigen, anders als man von manchen französischen Politikern hört, dass dieser Krieg nicht nur der Krieg der Ukrainer ist, sondern dass dieser Konflikt breitere Fragen der Sicherheit in Zentraleuropa und darüber hinaus stellt.
Die Bundesrepublik Deutschland ist aktuell mit ca. 100 Soldaten auf demselben Stützpunkt wie die französischen Streitkräfte in Niamey, in Niger vertreten. Plant Berlin, diese Kräfte in Niamey stationiert zu lassen, selbst wenn die Militärregierung, die im Sommer geputscht, hat an der Macht bleibt?
BP: Entscheidend ist für uns die Sicherheitslage. Derzeit befinden sich unsere Soldatinnen und Soldaten nicht in Gefahr. Niamey spielt eine wichtige Rolle bei der Rückverlegung aus dem benachbarten Mali. Es ist gut, Ansprechpartner vor Ort zu haben und nicht komplett abzuziehen. So lange wie möglich. Wenn es keinen Grund mehr gibt zu bleiben und die Gefahr für unsere Truppe zu hoch ist, dann müssen wir unsere Präsenz natürlich überprüfen. Sollten die französischen Einheiten das Land verlassen, würde sich selbstverständlich auch für uns die Frage eines Abzuges umso mehr stellen. Dann würden wir erneut prüfen.
Worauf wartet Frankreich, außer auf eine hypothetische Abzugsforderung des nigrischen Staatspräsidenten Mohamed Bazoum selbst, um die eigenen Truppen abzuziehen, wie die Militärregierung es seit Wochen fordert?
SL: Die Junta hat uns keine Forderungen zu stellen. Dieser Putsch drängt außerdem die Terrorismusbekämpfung in den Hintergrund. Staatspräsident Macron hat es mehrmals zum Ausdruck gebracht: Es gibt einen legitim und demokratisch gewählten Präsidenten in Niger. Hätte es einen Militärputsch zur Absetzung eines gewählten Staatschefs in einem Mitgliedstaat der EUEuropäische Union gegeben, bin ich der Meinung, dass niemand dies als Tatsache hingenommen hätte. Wir setzen uns aktiv für die Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung ein.
Cédric Pietralunga/Elise Vincent/Thomas Wieder (Berlin, Korrespondent)
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