Brigadegeneral Dirk Faust gehört zu den Bundeswehr-Blauhelmen der ersten Stunde. Die Redaktion der Bundeswehr hat mit ihm aus Anlass des 75-jährigen Jubiläums der UNUnited Nations gesprochen. Faust sagt: „Wenn wir die Vereinten Nationen nicht bereits hätten, so müssten wir sie erfinden.“ Es gibt nach seiner Ansicht keine geeignetere Institution zur Friedenssicherung.
Sie gehören nach dem Mauerfall zu den Bundeswehr-Blauhelmen der ersten Stunde. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
Dies war schon eine besondere Zeit. Aus der Armee des Kalten Krieges wandelte sich die Bundeswehr über die Armee der Einheit zur Armee der Auslandseinsätze. Vieles, was heute selbstverständlich ist, wie zum Beispiel die einsatzvorbereitende Ausbildung oder auch teilweise klimaangepasste Einsatzbekleidung, Unterbringung im Einsatz und vieles mehr, war damals Neuland. Natürlich war die Zusammenarbeit mit den anderen Nationen und der für mich erste Einsatz in Afrika im Rahmen UNOSOMUnited Nations Operation in Somalia II eine besondere Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Gleichzeitig stelle ich im Rückblick fest, dass die dort gemachten Erfahrungen mit dem „System UNUnited Nations“ in der Bundeswehr über die Jahrzehnte etwas in Vergessenheit geraten waren und wir mit Einsatzbeginn in Mali diese Erfahrungen „noch mal neu“ gemacht haben.
Wie haben sich die Anforderungen bei UNUnited Nations-Friedensmissionen seither geändert?
Die Vereinten Nationen und ihre Blauhelme stehen heute den unterschiedlichsten Herausforderungen bis hin zu gewaltbereitem Extremismus gegenüber. Das klassische Peacekeeping des Kalten Krieges zur Trennung zweier Konfliktparteien gibt es heute zunehmend weniger. Friedenseinsätze wurden mit den Jahren mehrdimensionaler, das heißt, neben den militärischen wurden vermehrt polizeiliche und zivile Komponenten integriert, da eine Vielzahl von Aufgaben durch die modernen Friedensmissionen abgedeckt werden müssen. Als direkte Lehre aus dem Massaker von Srebrenica und dem Völkermord in Ruanda wurden viele derzeit laufende Missionen zum Schutz der Zivilbevölkerung mandatiert, teilweise darf dieser sogar unter Anwendung von Gewalt durchgesetzt werden. Dies ist ein signifikanter Unterschied zu früheren Missionen, die, wie bereits gesagt, meist vor allem Konfliktparteien zu trennen hatten.
Welche Aufgaben haben die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr heute bei UNUnited Nations-Friedensmissionen?
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind als Militärbeobachter, Stabspersonal und im Rahmen von Truppenkontingenten eingesetzt, mehrheitlich zu Land, aber auch zur See wie bei UNIFILUnited Nations Interim Force in Lebanon (Libanon). Wir können die vielfältigen Aufgaben am besten anhand der UNUnited Nations-Mission mit der derzeit größten deutschen Beteiligung verdeutlichen: Bei MINUSMAMission Multidimensionnelle Intégrée des Nations Unies pour la Stabilisation au Mali in Mali übernehmen die Soldatinnen und Soldaten des deutschen Einsatzkontingentes unter anderem im Bereich Schutz und Aufklärung Verantwortung. Dazu ist Personal im MINUSMAMission Multidimensionnelle Intégrée des Nations Unies pour la Stabilisation au Mali-Hauptquartier (HQHeadquarter) eingesetzt. Insgesamt kommen die individuellen Qualitäten unserer Soldatinnen und Soldaten genauso zur Geltung wie unsere Hochwertfähigkeiten im Bereich der Aufklärung mit der ISRIntelligence, Surveillance and Reconnaissance-Taskforce und der Heron TP.
Welche konkreten Beiträge leistet die Bundeswehr zur Friedenssicherung bei UNUnited Nations-Einsätzen?
Deutschland beteiligt sich mit mehr als 1.100 Soldatinnen und Soldaten an fünf Blauhelm-Missionen (UNAMIDNations-African Union Hybrid Mission in Darfur in Darfur/Sudan, UNMISSUnited Nations Mission in South Sudan im Südsudan, MINUSMAMission Multidimensionnelle Intégrée des Nations Unies pour la Stabilisation au Mali in Mali, MINURSOMission des Nations Unies pour l’organisation d’un Référendum au Sahara Occidenta (Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un Référendum au Sahara Occidental) in der Westsahara und UNIFILUnited Nations Interim Force in Lebanon im Libanon) sowie einer politischen Mission (UNMHAUnited Nations Mission to support the Hodeidah Agreement im Jemen). Neben gut ausgebildetem und ausgestattetem Personal stellt Deutschland den Missionen Hochwertfähigkeiten zur Verfügung. Wir verfolgen die Absicht, uns auch noch stärker mit Führungspersonal in den Missionen einzubringen. Zum Beispiel übernimmt Deutschland zu Anfang 2021 das Kommando der sogenannten Maritime Task Force bei UNIFILUnited Nations Interim Force in Lebanon.
Wie ordnen Sie den Anteil der Bundeswehr an den UNUnited Nations-Militärbeobachtern ein?
Die deutschen Militärbeobachterinnen und Militärbeobachter genießen einen exzellenten Ruf. Sie werden aufgrund ihrer guten Ausbildung sehr von den Kameradinnen und Kameraden im Feld geschätzt. Wir übernehmen selbstständig Verantwortung und sind bereit, auch die Führungsverantwortung für andere zu übernehmen. Außerdem haben wir uns zum Ziel gesetzt, den Frauenanteil bei den Militärbeobachtern weiter zu erhöhen. Unter anderem hat der Generalinspekteur der Bundeswehr in einem Tagesbefehl dazu aufgerufen, dass sich mehr Soldatinnen für eine Teilnahme am Militärbeobachterlehrgang melden. Insgesamt zeichnet sich der Beitrag der Bundeswehr bei den UNUnited Nations-Militärbeobachtern durch die hohe Qualität unserer Soldaten aus. Es gibt keinen Auftrag, den wir nicht erfüllen können.
Wie hat Ihre Arbeit für die UNUnited Nations ihre persönliche Entwicklung als Soldat der Bundeswehr beeinflusst?
Zwischen meinen beiden Einsätzen im Rahmen der UNUnited Nations liegen über 20 Jahre. In meinem ersten UNUnited Nations-Einsatz bei UNOSOMUnited Nations Operation in Somalia II und meinem ersten Einsatz überhaupt war ich Oberleutnant und Angehöriger des deutschen Einsatzkontingentes. Wie bereits gesagt, vieles war Neuland und ich habe meine persönlichen Erfahrungen gemacht, so wie jede Soldatin und jeder Soldat, der zum ersten Mal im Einsatz ist. Der Aspekt der Multinationalität und die Zusammenarbeit mit Truppenkontingenten anderer Nationen spielte dabei natürlich eine besondere Rolle.
Wie ging es weiter?
Nach weiteren Einsätzen in Afghanistan und Kosovo ging es dann 2015 für ein Jahr als Deputy Force Commander und Chief Military Observer UNMILUnited Nations Mission in Liberia nach Liberia in eine im Wesentlichen von afrikanischen und asiatischen Truppenstellern geprägte UNUnited Nations-Mission mit über 4.500 Soldatinnen und Soldaten. Da es sich um eine multidimensionale Mission handelte, waren noch Polizeikontingente sowie zivile Anteile fester Bestandteil der Mission. Hier zeigte sich, wie gut unsere Ausbildung auf allen Ebenen uns für Einsätze auch in einem solchen Umfeld vorbereitet.
Worauf kommt es dabei an?
Menschenführung und interkulturelle Kompetenz sowie ressortübergreifendem Handeln kommen besondere Bedeutung zu. Außerdem braucht man eine Menge Realismus sowie eine hohe Frustrationstoleranz, denn jedes truppenstellende Land tickt anders und hat ein anderes Niveau im Bereich Ausbildung, Ausrüstung, Einsatzmoral und so weiter. Dazu kommt, dass die gewohnten und standardisierten Führungsprozesse und Verfahren zur Entscheidungsfindung, die wir aus unseren Einsätzen im NATONorth Atlantic Treaty Organization- und EUEuropäische Union-Rahmen kennen, nicht zwingend bei den UNUnited Nations Anwendung finden.
Was können Sie uns weiterhin dazu sagen?
Darüber hinaus sind die UNUnited Nations unglaublich bürokratisch in Sachen Verwaltung und es braucht ein geraumes Maß an Gelassenheit, damit umzugehen. Insbesondere dann, wenn man unter Wegfall der Geld- und Sachbezüge beurlaubt und direkt von den UNUnited Nations unter Vertrag genommen wird. Dass die UNUnited Nations vorher im Zuge des Bewerbungsverfahrens einen Hintergrundcheck in Sachen Human Rights Violations machen und man während der Tätigkeit auf dieser Führungsebene wiederholt seine Vermögensverhältnisse transparent machen muss, war für mich ebenfalls neu. Aber, wie gesagt, meine UNUnited Nations-Einsätze waren eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte!
Profitiert die Bundeswehr insgesamt von den Erfahrungen aus den UNUnited Nations-Einsätzen?
Wenn man sich nach dem Einsatz mit Soldatinnen und Soldaten unterhält, die sich vorher nicht so sehr mit den UNUnited Nations auseinandergesetzt haben, ist festzustellen, dass viele oft sehr überzeugt aus einem UNUnited Nations-Einsatz zurückkommen. Mehr noch als für die Angehörigen größerer deutscher Einsatzkontingente gilt dies für die Militärbeobachter der kleineren Missionen, die oftmals als „Einzelmarschierer“ mehrere Monate „auf sich allein gestellt“ in einem kleinen multinationalen Beobachterteam, vergleichbar der Größe einer Infanteriegruppe, in einer Teamsite (UNUnited Nations-Begriff für eine kleine Außenstelle am Einsatzort des Beobachterteams) in irgendeinem entlegenen Winkel des Einsatzgebietes ihren Auftrag erfüllen. Die Überzeugung, etwas bewirkt zu haben, lässt diese oft nicht mehr los.
Wie kommt das in der Truppe an?
Sie tragen diese Erkenntnis als Multiplikatoren in die Truppe und rufen damit auch ein ganz anderes Verständnis und Wissen bei ihren Kameraden herbei. Die Bundeswehr profitiert von den Erfahrungen, da natürlich der Einsatz einen wichtigen Einfluss auf das Selbstverständnis unserer Soldatinnen und Soldaten hat. Sie leisten einen wichtigen Einblick in einem multinationalen Umfeld und werden mit Herausforderungen konfrontiert, die ihre persönliche Entwicklung in der weiteren Laufbahn prägen. Darüber gewinnt man wertvolle Einblicke in das „System UNUnited Nations“, die sich bei möglichen künftigen Einsätzen gewinnbringend nutzen lassen. Damit können wir das Schaffen und den Erhalt von Expertise zur Verbesserung der militärischen Dienstpostenbesetzung in internationalen Verwendungen sicherstellen. Solche Einsätze dienen auch der Personalentwicklung für Verwendungen im Hauptquartier der UNUnited Nations in New York oder auch späteren Führungsverwendungen in UNUnited Nations-Missionen. Nur so lässt sich in deutschem Interesse gestalterisch Einfluss nehmen. Ich selbst jedenfalls stehe jederzeit wieder für einen UNUnited Nations-Einsatz zur Verfügung.
Welchen Stellenwert hat aus Ihrer Sicht der Beitrag der Bundeswehr zu den UNUnited Nations-Einsätzen im Kreise ihrer Partner, also innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft?
Deutschland leistet den viertgrößten finanziellen Beitrag zu UNUnited Nations-Missionen und ist ebenfalls viertgrößter europäischer Truppensteller für Blauhelm-Missionen. Wir werden als verlässlicher Partner im Peacekeeping geschätzt. Mit qualitativ hochwertigen, robusten Fähigkeiten und bestens ausgebildeten, leistungsfähigen Soldatinnen und Soldaten. Der Bereich Ausbildung gilt als deutsches Markenzeichen, weshalb jedes Jahr zahlreiche Kooperationen angefragt werden. Aber auch die Fähigkeiten unseres Sanitätsdienstes werden von den UNUnited Nations-Partnern gerne gesehen und Kooperationen mit Deutschland angefragt. In den letzten zwei Jahren haben wir an Profil gewonnen und werden als Vorreiter in den Bereichen Ausbildung, Stabstraining, Frauen in der Friedenssicherung und Sanitätswesen betrachtet. Ein toller Erfolg.
75 Jahre UNUnited Nations – welche Erfolge des Peacekeepings heben Sie hervor?
Friedensmissionen sind das Aushängeschild der Vereinten Nationen! Zumindest sehe ich das so. Aus meiner Sicht haben Friedensmissionen insgesamt einen positiven Effekt auf Konfliktlösung und insbesondere die Dauer des Friedens nach einem Konflikt. Rückschläge kommen natürlich vor, stellen aber das System natürlich nicht in Frage. Peacekeeping und Konfliktnachsorge brauchen ihre Zeit. Gleichzeitig bedarf es der steten Verbesserung, Weiterentwicklung und Anpassung des Systems Peacekeeping an die heutigen Rahmenbedingungen.
Blicken Sie weiter in die Geschichte?
Bereits drei Jahre nach der Gründung der UNUnited Nations im Jahr 1948 wurde die erste Beobachtermission ins Leben gerufen, die bis heute Bestand hat. Seitdem hat sich das Peacekeeping kontinuierlich weiterentwickelt bis hin zu den heutigen multidimensionalen Friedensmissionen. Meine persönlichen Erfahrungen dazu habe ich bei UNMILUnited Nations Mission in Liberia in Liberia gemacht. Die Mission gilt als eine der erfolgreichsten in der Geschichte der UNUnited Nations. Sie wurde 2018 beendet, nachdem der Frieden erfolgreich gesichert und konsolidiert werden konnte. Nicht zu vergessen die zentrale Rolle von UNUnited Nations-Friedensmissionen zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte.
Wo sehen Sie Bedarf an Reformen – muss die UNUnited Nations institutionell gestärkt werden?
Es gibt selbstverständlich bei einer Institution, die dieses Jahr ihr 75-jähriges Bestehen feiert, auch Reformbedarf. So spiegelt die Zusammensetzung des UNUnited Nations-Sicherheitsrats nicht die politischen Realitäten des 21. Jahrhunderts wider. Auch das Peacekeeping muss noch stärker an bestehende und zukünftige Herausforderungen angepasst werden, ohne dass wir es überfrachten. Dazu kommt die Verbesserung der Zusammenarbeit der zivilen, militärischen und polizeilichen Komponenten, die Ausbildung und Zertifizierung des uniformierten Personals. Von 1994 bis 1998 hat der deutsche Generalleutnant Manfred Eisele als oberster Militärberater der UNUnited Nations-Generalsekretäre Boutros Boutros-Ghali und Kofi Annan im UNUnited Nations-Hauptquartier erheblichen Anteil an der Weiterentwicklung des Peacekeepings gehabt und in seiner Zeit Pionierarbeit in Sachen Reformen geleistet. Heute setzt sich Deutschland aktiv für die Stärkung der UNUnited Nations und des Multilateralismus ein. Wir unterstützen auch Reforminitiativen im Bereich der Friedenssicherung, zum Beispiel die „Action for Peacekeeping“ (A4PAction for Peacekeeping)-Initiative des UNUnited Nations-Generalsekretärs.
Manches Mal ist die Arbeit der UNUnited Nations belächelt worden – was sagen Sie den Kritikern anlässlich 75 Jahren UNUnited Nations?
Es kommt natürlich immer darauf an, was im konkreten Fall kritisiert wird. Obgleich die Diskussionen um Effektivität und Leistungsfähigkeit ihre Berechtigung haben und bei aller Notwendigkeit zu Reformen, bin ich der Ansicht: Wenn wir die UNUnited Nations nicht bereits hätten, so müssten wir sie erfinden. Egal, wie zäh manche Prozesse zeitweise sein mögen, aus meiner Sicht gibt es keine geeignetere Institution zur Friedenssicherung und Wahrung, die fast alle Länder der Welt einbezieht.
Die Fragen stellte Jörg Fleischer.
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