In der vierten Expertenrunde der Dialogreihe Gespräche am Ehrenmal diskutierten die Teilnehmenden über die Frage, wie die Amtshilfe der Bundeswehr angesichts der sicherheitspolitischen Entwicklung in Europa und der damit verbundenen Notwendigkeit zur Rückbesinnung auf ihren eigentlichen Kernauftrag Landes- und Bündnisverteidigung zu bewerten ist.
Das Spannungsfeld, in dem die Truppe agieren muss, umriss eingangs Rüdiger Huth, stellvertretender Abteilungsleiter Politik im Verteidigungsministerium: Seit dem Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine werde die Bundeswehr mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen aus Politik und Gesellschaft konfrontiert, unter anderem auch mit der erneuten Forderung zur materiellen und personellen Unterstützung bei der Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine in Deutschland.
In ihrem Audio-Statement lobte die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Eva Högl, die hervorragenden Leistungen der Soldatinnen und Soldaten in der Amtshilfe. Sie würden als hoch motiviert, extrem engagiert, professionell und zuverlässig wahrgenommen. Die Truppe brauche diese positive gesellschaftliche Resonanz, ein ehrliches Interesse, Respekt und Wertschätzung. Dies sei gerade auch wünschenswert für die Wahrnehmung ihres Kernauftrages.
Allerdings bewertet sie die personelle Bereitschaftsplanung von bis 25.000 Soldatinnen und Soldaten, insbesondere aber den Einsatz von durchschnittlich 19.000 Kräften über die Dauer von zwei Jahren jetzt kritisch: Es resultieren dadurch deutliche Defizite in der Ausbildung und bei der Inübunghaltung. Dazu käme die Mehrbelastung der Truppe durch verlängerte Auslandseinsätze. Die Amtshilfe werde nun zügig zurückgefahren, so Högl.
Die Militärhistorikerin Loretana de Libero von der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg stellte heraus, die Tradition des Helfens stehe neben der jungen Tradition des Gefechtsfelds für eine moderne militärische Erinnerungskultur nationaler und internationaler Prägung. Es gelte, diese Erfolgsgeschichte und die Leistungen der Soldatinnen und Soldaten nach außen sichtbar zu machen sowie die Erinnerung daran zu bewahren.
Schon in den 1950er- und 1960er-Jahren habe die Bundeswehr mit Amtshilfeeinsätzen dazu beigetragen, Vorbehalte gegen die damals noch jungen Streitkräfte der Bundesrepublik abzubauen. Amtshilfeleistungen seien zudem ein wesentlicher Bestandteil des Selbst- und Traditionsverständnisses. Jeder Einsatz stärke das „Wirgefühl“ zwischen Helfenden und Betroffenen, ebenso das Kameradschaftsgefühl. Die bei der Flutkatastrophe im Ahrtal eingesetzten Angehörigen der Bundeswehr empfanden beispielsweise ihren Einsatz vor dem Hintergrund der Fluthilfe 1962 in Hamburg als identitätsstiftende Brücke von der Gegenwart zur Vergangenheit. Wie beherzt sich die Soldaten in Hamburg einsetzten und neun Soldaten mit ihrem Leben bezahlten, machte de Libero deutlich.
Generalleutnant Jürgen Weigt, Stellvertreter des Inspekteurs der Streitkräftebasis, bekräftigte ebenfalls diese Bedeutung für das soldatische Selbstverständnis sowie die gesellschaftliche Anerkennung der Truppe.
Die Bundeswehr als Helfer in der Not sei eine Art „bewährte Tradition“ geworden, insbesondere bei den eingesetzten Truppenteilen. Ein Einsatz im Rahmen der Amts- beziehungsweise Katastrophenhilfe sei für den einzelnen Soldaten nicht unbedingt etwas anderes als ein Kriegseinsatz: Dieser besondere Dienst appelliere genauso an soldatische Werte, verlange Mut und Opferbereitschaft und ermögliche das Erleben des soldatischen Werts des selbstlosen Handelns. Er sei Teil des mitzubringenden Selbstverständnisses, wenn man Soldatsein wirklich leben wolle.
Mit der Erfolgsbilanz der Hilfseinsätze verbinde sich eine spürbare Anerkennung und ausnahmslos positive gesellschaftliche Wahrnehmung der Bundeswehr. Das Engagement der Streitkräfte in der COVID-19Coronavirus Disease 2019-Pandemie und unter dem Eindruck der Zeitenwende seit dem 24. Februar 2022 habe den Bürgerinnen und Bürgern zurück in das Bewusstsein gebracht, dass die Bundeswehr ein wesentlicher Bestandteil im Verständnis gesamtstaatlicher Sicherheitsvorsorge sei.
Generalarzt Ralf Hoffmann, Beauftragter des BMVgBundesministerium der Verteidigung für einsatzbedingte posttraumatische Belastungsstörungen und Einsatztraumatisierte (PTBS) und derzeit im Corona-Krisenstab des Kanzleramtes eingesetzt, steuerte die Bewertung aus Sicht des Kommandos Sanitätsdienst bei. Die Katastrophenhilfe des Sanitätsdienstes im Inland und Nothilfe im Ausland sei aufgrund der langen Einsatzgeschichte historischer Pfeiler des eigenen Selbstverständnisses. Das Leitbild „Der Menschlichkeit verpflichtet“ sei innere Triebfeder. Es beziehe sich jedoch neben dem Bewusstsein, zu anderen Aufgaben hinzugezogen werden zu können, in erster Linie auf den Kernauftrag des Sanitätsdienstes, nämlich die Gesundheit der Soldatinnen und Soldaten zu schützen, zu erhalten und wiederherzustellen, um die Funktionalität des Gesamtsystems Bundeswehr zu gewährleisten.
Die personalintensive Unterstützungsleistung in der COVID-19Coronavirus Disease 2019-Pandemie, als jeder zweite Angehörige des Sanitätsdienstes in der Coronahilfe eingesetzt war, belaste die Befähigung zur Erfüllung des Kernauftrags, auch wenn sich dieser Einsatz positiv auf das Selbstverständnis auswirke. Im Gegensatz zum abstrakten soldatischen Ziel der „Produktion von Sicherheit“ seien die positiven Auswirkungen des Engagements für die Soldatinnen und Soldaten in der Coronahilfe direkt spürbar und ein enormer Motivationsschub.
Die Amtshilfe bleibe für das Ansehen sowie das Selbst- und Traditionsverständnis der Bundeswehr von besonderer Bedeutung. Aber der Kernauftrag habe Priorität, so der Konsens der Diskutanten. Insbesondere vor dem Hintergrund multipler Krisen müsse die Politik und Gesellschaft sich darüber Gedanken machen, mit welchen zukünftigen Strukturen und präventiven Maßnahmen der zivilstaatliche Sektor auch ohne die Amtshilfe der Bundeswehr seine eigene Handlungsfähig sicherstellt.
In den vergangenen zwei Jahren sei wesentlicher Wissenstransfer zwischen militärischen und zivilen Akteuren vermittelt worden. Die Antrags- und Bewilligungsprozess bei künftigen Anträgen auf Amtshilfe bedürfe stets der Erörterung der Exit-Strategie sowie eine ergebnisoffene Diskussion über erforderliche Instrumente und Mechanismen. Eine gesellschaftliche Diskussion über die Wehr- oder Dienstpflicht könne hier nicht allein oder überhaupt Abhilfe schaffen, so die Diskussionsrunde.
Bei den fünften Gesprächen am Ehrenmal am 29. Juni 2022 widmen sich die Teilnehmenden unter der Überschrift „Was ist geblieben? Das geistige Erbe ein Jahr nach dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan“ dem Thema der Erinnerungskultur dieses Auslandseinsatzes.
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