Generalinspekteur Eberhard Zorn spricht sich in seiner Auftaktrede zum Start der Bilanzdebatte „20 Jahre Afghanistan“ gegen ein vorschnelles Urteil aus. Der Bundeswehreinsatz müsse stattdessen differenziert betrachtet werden. Einsatzländer müssten künftig schneller zur Eigenverantwortung geführt und zivile und militärische Mittel besser kombiniert werden.
Rede des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, anlässlich der Auftaktveranstaltung „20 Jahre Afghanistan – Startschuss für eine Bilanzdebatte“ am 6. Oktober 2021 in Berlin.
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Frau Ministerin Kramp-Karrenbauer,
sehr geehrte Damen und Herren,
hier im Saal und draußen an den Bildschirmen,
Kameradinnen und Kameraden,
für die Bundeswehr ist das Einsatzende der Resolute Support Mission eine Zäsur. Rund 93.000 Soldatinnen und Soldaten haben in Afghanistan gedient, 59 Kameraden sind dort gefallen oder verstorben und viele sind mit Verwundungen an Leib und Seele nach Deutschland zurückgekehrt.
Für viele unserer Veteranen, die in Afghanistan ihr Leben riskiert haben, und ihre Angehörigen stellt sich nun erneut die Frage nach dem Sinn ihres Einsatzes. Jedem Soldaten und jeder Soldatin sage ich aus persönlicher Überzeugung, dass ihr Dienst in Afghanistan einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit unseres Landes und unserer Bündnispartner geleistet hat.
Was war sinnstiftend?
Zusammen mit den Kameraden der alliierten Streitkräfte haben wir in den vergangenen 20 Jahren dazu beigetragen, dass von Afghanistan keine terroristische Gefahr ausging. Unsere Bilanz und Evaluierung muss am Ende die Frage nach dem Sinn des gesamten Einsatzes umfassend beantworten. Dieser Prozess muss alle Politikfelder beleuchten und braucht Zeit. Ein Teil dieses Vorhabens ist die militärische Auswertung, die wir in allen Einsätzen als kontinuierlichen Prozess angelegt haben.
In den vergangenen 20 Jahren haben wir jedes einzelne der 76 Afghanistan-Kontingente systematisch und strukturiert ausgewertet. Und als nach 13 Jahren ISAFInternational Security Assistance Force endete, haben wir diese Mission evaluiert. Hierbei ging es immer darum, schnell die notwendigen militärischen Schlussfolgerungen zu ziehen für die Operationsführung, Ausbildung, Ausrüstung und für die Folgekontingente.
Viele dieser Erkenntnisse finden sich daher heute in den Einsatzgrundsätzen der Bundeswehr wieder. Die persönliche Ausstattung unserer Soldaten, aber auch ihre Ausbildung basieren ganz wesentlich auf den lessons learnt aus Afghanistan.
Heute ist es selbstverständlich, dass wir Einheiten auf ihren Einsatz, auf IEDImprovised Explosive Device-Anschläge, Hinterhalte und Feuergefechte mit Aufständischen vorbereiten. Heute erhält jeder Einsatzsoldat moderne persönliche Ausrüstung und eine intensive Sanitätsausbildung. Alle Kameradinnen und Kameraden sind sogenannte Ersthelfer A, können Morphin geben und eine Schusswunde versorgen.
Das sind alles Entwicklungen, die wir nach der Zunahme der Kampfhandlungen im Jahr 2008 angestoßen und umgesetzt haben. Die Bundeswehr hat in den zahlreichen Gefechten dieser Jahre bewiesen, dass sie kämpfen kann.
Aber auch andere Punkte zeigen, dass wir durch Afghanistan eine Einsatzarmee geworden sind. Der Umgang mit Tod und Verwundung, unser Verhältnis zum Veteran sein und unsere Gedenkkultur haben sich durch Afghanistan verändert.
Das Ehrenmal der Bundeswehr, der Wald der Erinnerung, die Benennung von Kasernen nach Gefallenen und auch die zahlreichen Denkmäler in Kasernen verdeutlichen dies ebenso wie das Veteranenabzeichen, das Ehrenkreuz für Tapferkeit, die Schaffung des Amtes des PTBS- (Posttraumatische Belastungsstörung) und auch das der Hinterbliebenenbeauftragten. Und auch das Einsatzweiterverwendungsgesetz gäbe es nicht ohne Afghanistan.
Manches davon mussten die Betroffenen sich hart erkämpfen und in manchen Bereichen sind wir noch nicht am Ende des Weges.
Gerade mit Blick auf die gesetzlichen Anpassungen gilt mein Dank den Politikerinnen und Politikern des Deutschen Bundestages. Sie haben mit Ihren Stimmen dafür gesorgt, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten, ihren Angehörigen und ihren Hinterbliebenen heute besser helfen können.
Wenn wir also heute damit beginnen, Bilanz zu ziehen, gibt es bereits Grundlagen und Erkenntnisse, auf denen wir aufsetzen können. Diese gilt es aufzunehmen und mit den gewonnenen zusätzlichen Erkenntnissen in einen Gesamtkontext einzubetten. All unsere eigenen militärischen Auswerteergebnisse werden wir in den im September durch die NATONorth Atlantic Treaty Organization begonnenen Lessons-learnt-Prozess einbringen und im Gegenzug von den durch die Alliierten gewonnen Erkenntnissen profitieren. Wir sind also militärisch zu einem raschen Beginn unserer eigenen Arbeiten aufgefordert.
Lassen Sie mich dabei Folgendes anmerken: Mindestens seit Mai dieses Jahres steht für viele das Urteil über den gesamten Afghanistan-Einsatz bereits fest: Desaster und katastrophales Ergebnis sind die Kernbegriffe, der Einsatz sei weitgehend gescheitert, war zu lesen.
Man hat also vor Beginn der Auswertung und Bilanzierung bereits ein weitverbreitetes Urteil gefällt – medial wie politisch.
Gleichzeitig wird zurecht gefordert, einen lang angesetzten und umfassenden Prozess der Aufarbeitung aufzusetzen.
Wir stehen heute also gewissermaßen zwischen diesen beiden Aussagen. Wir sollten aus meiner Sicht Urteile nicht vorschnell treffen. Die 20 Jahre Einsatz müssen wir differenziert nach den jeweiligen Einsatzphasen betrachten.
In der Gesamtschau gilt es, den Einsatz mit Blick auf seine strategischen, politischen und militärischen Ziele, den Einsatz der Mittel und deren Wirkung sowie die Auftragserfüllung der unterschiedlichen Akteure zu analysieren.
Diese differenzierte und ehrliche Auswertung verdienen unsere zivilen und militärischen Einsatzkräfte, die sich alle mit großem persönlichem Engagement eingebracht haben. Sie haben im Auftrag der Regierung und mit dem Mandat des Parlamentes Sinnvolles geleistet mit ihrem individuellen Beitrag und im Rahmen ihrer jeweiligen Organisation. Daraus können sie Stolz und Genugtuung ableiten.
In unseren Auslandseinsätzen sind Streitkräfte immer nur eines von vielen Mitteln, die zum Einsatz gebracht werden. Das war auch in Afghanistan so. Wir haben dort einen vernetzten Ansatz verfolgt. So sind wir unter anderem mit dem PRT (Provincial Reconstruction Team, Schutz des Wiederaufbaus der Infrastruktur)-Konzept neue Wege gegangen. Auch in dieses Feld müssen wir im Rahmen der Bilanz zusammen mit allen beteiligten Akteuren blicken.
Ich muss allerdings feststellen, dass in der breiten Öffentlichkeit der Afghanistan-Einsatz weit überwiegend nur mit dem Einsatz der Bundeswehr in Verbindung gebracht wird. Dieser Blick greift zu kurz. Erfolgreiche Auslandseinsätze brauchen den Einsatz aller Mittel, insofern muss auch die Evaluierung alle Ressorts einbeziehen. Meine Hoffnung ist, dass die ressortübergreifende Bilanz die Leistungen und das große Engagement aller Beteiligten würdigt und einordnet, und sich dies auch in der Berichterstattung breit niederschlägt.
Ich erwarte mir von der Bilanzierung auch klare Hinweise, wie wir unsere eigene Bevölkerung besser über derartige Einsätze informieren können, um auch den gesellschaftlichen Rückhalt zu vergrößern.
Denn wenn die Demoskopen recht haben, hat der Afghanistaneinsatz zu keinem Zeitpunkt in der Öffentlichkeit eine breite Unterstützung erfahren.
Wir müssen uns fragen, wie wir den vernetzten Ansatz weiterentwickeln, um aus der Sicherheit, die wir als Militär schaffen, dauerhafte Stabilität aufzubauen; damit die taktisch-operative Arbeit, die auf dieser Ebene als Erfolg bewertet wird, sich dauerhaft in politisch-strategische Nachhaltigkeit übersetzen lässt.
Wir müssen kritisch fragen, wie die Politik Afghanistans selbst und die aller engagierter Staaten diesen durch die Sicherheitskräfte geschaffenen Rahmen genutzt haben. In diesem Kontext stellen sich für uns unter anderem diese Fragen:
Haben wir das Land und seine Bevölkerung überfordert? Haben wir die afghanische Armee in ihrer Leistungsfähigkeit zur selbständigen Operationsführung überschätzt? Wieso hat uns die Lageentwicklung am Ende derart überraschen können?
Meine Damen und Herren,
auch wenn es uns unter den noch frischen Eindrücken von Kabul schwerfällt, dürfen wir die Diskussion nicht auf das Ende des Einsatzes verengen. Es gilt die gesamten zwanzig Jahre zu betrachten. Nur so können wir es vermeiden, Fehler zu wiederholen und nur so können wir es schaffen, gute Ansätze weiterzuentwickeln.
Die heutige Veranstaltung ist also ein Beitrag, 20 Jahre Afghanistan in allen Facetten, über alle Ebenen hinweg, mit allen Akteuren und Ereignissen und auch mit den „Hochs“ und „Tiefs“ unseres Engagements zu beleuchten. Ich bin mir deshalb sicher, dass die heutigen Diskussionen einen wichtigen ersten Beitrag zur militärischen Auswertung und zur Bilanz über alle Politikfelder leisten wird.
Mir ist wichtig, dass wir aus den Schlussbildern der letzten Monate nicht den Schluss ziehen, dass internationales, auch militärisches Krisenmanagement mit dem Ziel der Stabilisierung einer Region nicht erfolgversprechend sein kann und daher besser erst gar nicht versucht werden sollte. Denn was wäre geschehen, wenn wir uns nach 9/11 nicht in Afghanistan engagiert hätten?
Vielmehr gilt es zu bewerten, wie wir die Einsatzländer stärker und früher in die eigene Verantwortung führen können, wie wir unsere militärische Unterstützung noch komplementärer und in einem besser vernetzten Ansatz leisten können.
Mit dieser kleinen Auswahl an Leitfragen im Hinterkopf freue ich mich auf eine tiefgehende Diskussion und einen kritischen Auswerte- und Bilanzierungsprozess.
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