Verteidigungsminister Boris Pistorius hat bei der Bundeswehrtagung am 9. November die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 vorgestellt. Diese geben unter anderem vor, was die Bundeswehr können muss. Doch was steht genau in diesem Grundlagendokument?
Was sind die Verteidigungspolitischen Richtlinien?
Das Bundesministerium der Verteidigung hat nach mehr als einer Dekade neue Verteidigungspolitische Richtlinien veröffentlicht. Davor wurde das Dokument fünfmal erstellt: 1972, 1979, 1992, 2003 und 2011. Erarbeitet wurde das 34-seitige Dokument im Auftrag von Verteidigungsminister Boris Pistorius und unter Regie des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Carsten Breuer, in enger Zusammenarbeit mit den Abteilungen Politik, Planung sowie Strategie und Einsatz im BMVgBundesministerium der Verteidigung. Gezeichnet wurden die Verteidigungspolitischen Richtlinien abschließend vom Minister und dem Generalinspekteur der Bundeswehr.
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 sind das neue Grundlagendokument für das gesamte Verteidigungsressort. Sie machen außerdem Vorgaben für die Aufträge und Struktur der Bundeswehr. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien sind damit zentral und richtungweisend für die konzeptionelle und militärstrategische Weiterentwicklung der Bundeswehr.
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 knüpfen an die erste Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung an, die Mitte 2023 veröffentlicht worden ist. Sie entwickeln die Zielsetzungen der Nationalen Sicherheitsstrategie verteidigungspolitisch weiter und ersetzen damit das Weißbuch von 2016 sowie die Konzeption der Bundeswehr von 2018.
Wie ist die sicherheitspolitische Lage?
Seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine wird wieder Krieg in Europa geführt. Das war jahrzehntelang undenkbar. Damit hat sich die Bedrohungslage für Deutschland und seine Partner und Verbündeten in NATONorth Atlantic Treaty Organization und EUEuropäische Union dramatisch gewandelt. Bundeskanzler Olaf Scholz hat deshalb den Begriff der „Zeitenwende“ geprägt.
Aber auch weitere, teilweise seit längerem bestehende Krisen und Konflikte haben Einfluss auf die Sicherheit Deutschlands und seiner Partner. So hat sich mit dem Terrorangriff der islamistischen Hamas gegen Israel die Sicherheitslage in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas zusätzlich verschärft. Die Zeitenwende verändert die Rolle Deutschlands und der Bundeswehr fundamental. Deutschland, als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich starkes Land, ist vor dem Hintergrund dieser Krisen das Rückgrat der Abschreckung und der kollektiven Verteidigung in Europa.
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 sind Antwort auf diese neue Realität. Es heißt in dem Dokument: „Ein Leben in Frieden und Freiheit ist in der Mitte Europas keine Selbstverständlichkeit mehr.“ Daher müssen Freiheit und Sicherheit gemeinsam mit den Verbündeten verteidigt werden können. Nur so ist glaubhafte Abschreckung möglich. Für die Bundeswehr bedeutet das, bereit zur Verteidigung und zum Kampf zu sein. Dafür geben die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 die Richtung vor.
Welchen Auftrag geben die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr?
Gemäß den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 erfordert die sicherheitspolitische Lage ein wehrhaftes Deutschland. Dafür muss die Bundeswehr kriegstüchtig werden. Gemeint ist damit: Sie soll gemäß der früheren NATONorth Atlantic Treaty Organization-Abschreckungsdoktrin kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen. Was seit dem Ende des Kalten Kriegs von vielen für obsolet gehalten wurde, ist nun wieder der Kernauftrag der Bundeswehr: die Landes- und Bündnisverteidigung. Sie bestimmt alles Weitere: die Führungskultur, die Personalgewinnung, die Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten und ihre Ausstattung sowie die Ausrüstung der Bundeswehr mit Material und (Groß-)Gerät.
Was gebraucht wird, soll schnellstmöglich beschafft werden. Der Faktor Zeit ist dabei entscheidend. Trotz des klar gesetzten Schwerpunktes der Bundeswehr gerät das internationale Krisen- und Konfliktmanagement nicht aus dem Blick. Die Bundeswehr ist auch heute weiterhin zu Auslandseinsätzen fähig.
Aber auch hier entwickeln sich unsere militärischen und zivil-militärischen Instrumente weiter. So sind zum Beispiel auch die Militärische Ausbildungshilfe, Ausstattungshilfe und der militärische Anteil der Ertüchtigungsinitiative der Bundesregierung und Rüstungskooperationen wichtige Bausteine unserer Integrierten Verteidigungspolitik. Denn die internationalen Herausforderungen bleiben bestehen. Deutschlands zentrale Rolle im Kreis der Staatengemeinschaft macht dieses international ausgerichtete Engagement notwendig.
Was macht die strategische Neuorientierung Deutschlands am besten deutlich?
Die Zeitenwende ist in den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Dreh- und Angelpunkt. Sie betonen, dass Deutschland und die Bundeswehr wegen der veränderten Sicherheitslage in Europa in der Verantwortung stehen, einen noch stärkeren Beitrag als bisher zum Schutz und zur Sicherheit ihrer Verbündeten zu leisten, so etwa an der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ostflanke.
Diese Verantwortung geht zurück auf die Situation der Bundesrepublik Deutschland im Kalten Krieg, also der Zeitspanne zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Fall der Berliner Mauer. Damals hatte die Bundesrepublik als „Frontstaat“ umfassend vom Schutz der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verbündeten mit hunderttausendenden Soldatinnen und Soldaten auf ihrem Territorium profitiert, und zwar über Jahrzehnte hinweg.
Jetzt ist die Zeit, in der das nunmehr wiedervereinigte Deutschland dafür seinen Verbündeten etwas zurückgeben kann. Ein solches Signal der Solidarität ist die permanente Stationierung der Brigade in Litauen, bislang beispiellos in der Geschichte der Bundeswehr. Das unterstreichen die Verteidigungspolitischen Richtlinien nachdrücklich.
Geht es in den Verteidigungspolitischen Richtlinien nur um die Bundeswehr?
Nein. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien betonen eine integrierte Verteidigungspolitik. Diese ist international ausgerichtet, multinational eingebettet und gesamtstaatlich verankert. Hier knüpfen die Verteidigungspolitischen Richtlinien an die Philosophie der „Integrierten Sicherheit“ der Nationalen Sicherheitsstrategie an. Es geht darum, die gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge und Resilienz – sowie die Gesamtverteidigung des Landes – grundlegend zu stärken.
Das soll durch engeres Vernetzen und Verzahnen aller relevanten Akteure gewährleistet werden: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Der Rückhalt der Bürgerinnen und Bürger für die Sicherheitsorgane des Landes, von der Bundeswehr bis zu den Blaulichtorganisationen, ist dabei ebenso wichtig wie die Verantwortung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie und die enge Kooperation aller relevanten staatlichen Akteure, Ebenen und Resorts. Das machen die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 deutlich.
Geht es auch um Friedenssicherung in anderen Weltregionen?
Ja, die Verteidigungspolitischen Richtlinien betonen Deutschlands Eintreten für den Erhalt einer auf Regeln basierenden internationalen Ordnung. Und zwar deshalb, weil gerade angesichts eines
internationalen Umfeldes, das zunehmend von Unruhe geprägt ist, die Stärke des Rechts gegenüber dem vermeintlichen Recht des Stärkeren erhalten bleiben muss. Daran orientieren sich Deutschland und die Bundeswehr gemäß den Verteidigungspolitischen Richtlinien.
Deshalb gehen sie weltweit Partnerschaften mit jenen Staaten ein, die ebenfalls für den Erhalt der regelbasierten internationalen Ordnung stehen, insbesondere im zunehmend für uns bedeutsamen Indo-Pazifik. Hier geht es um Verteidigungsdiplomatie, regelmäßige militärische Präsenz und Rüstungskooperation. Deutschland ist zudem aktiv in den Vereinten Nationen. Diese sind ein zentrales Element deutscher Sicherheitspolitik. Die Bundeswehr ist also nach wie vor Instrument friedenssichernder Maßnahmen und Missionen der UNUnited Nations. Darauf weisen die Verteidigungspolitischen Richtlinien ausdrücklich hin.
Wie geht es weiter?
Die Vorgaben der Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 werden in ein neues Fähigkeitsprofil der Bundeswehr Eingang finden – und erstmalig auch in eine Militärstrategie überführt. Das Fundament dafür ist nunmehr gelegt.
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