Rede des Bundesministers der Verteidigung, Boris Pistorius, bei der gemeinsamen Veranstaltung von BMVgBundesministerium der Verteidigung, BMZBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und FES zum Thema „Vernetzte Sicherheit in der Sahel-Region“ am 19. März 2024
Es gilt das gesprochene Wort!
Lieber Martin Schulz,
liebe Svenja Schulze,
werte Damen und Herren Abgeordnete,
Exzellenzen,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
Gleich zweimal hat mich mein erstes Jahr als Verteidigungsminister in den Sahel geführt. Einmal gemeinsam mit dir, liebe Svenja, war ich in Niger und Mali und dann im Dezember erneut in Niger.
Bei beiden Reisen war mir wichtig, mit den Menschen vor Ort zu sprechen – mit den Regierenden ebenso wie mit der Zivilgesellschaft.
Ich habe aus diesen Gesprächen ein paar Lehren mitgenommen, die ich gerne in diesem Forum zur Diskussion stelle – einem Forum, bei dem wir nicht nur über Afrika und Sahel, sondern mit Vertretern dieses Kontinents und dieser Region sprechen wollen:
- Erstens: Die Menschen im Sahel wollen Sicherheit, Stabilität – als Voraussetzung für ein würdiges Leben in materieller Sicherheit. Gewaltsame kriminelle, extremistische oder gar terroristische Organisationen stellen täglich Sicherheit und Stabilität in Frage.
- Zweitens: Demokratie ist die bevorzugte Regierungsform – auch für die Menschen im Sahel! Allerdings sind einige Erfahrungen, die die Menschen bislang mit ihren - scheinbaren - Demokratien gemacht haben, durchwachsen. Für viele Menschen gehören dazu auch Erfahrungen von Korruption und Selbstbereicherung politischer Parteien oder Clans.
- Drittens: Schwarz/Weiß-Denken hilft nicht weiter. Der afrikanische Kontinent lässt sich nicht aufteilen in Demokratien einerseits und Autokratien andererseits. Vielmehr haben wir es mit einer Unmenge an Grautönen zu tun. Ein zentrales Kriterium der Menschen scheint mir zur sein: gute oder schlechte Regierungsführung – also: welche Regierung erfüllt meine Bedürfnisse nach Sicherheit, sozialer Perspektive und Teilhabe – und welche nicht?
- Viertens: Die Menschen im Sahel wollen selbstbestimmt leben – im Kleinen wie im Großen. Sie wollen nicht von außen gesagt bekommen, nach welchen Regeln und Prinzipien sie ihr Land zu regieren oder sich zu verwalten haben. Sie haben – auch durch die kollektive Erfahrung kolonialer Herrschaft – ein klares Bedürfnis nach nationaler Souveränität.
- Fünftens: Internationale Unterstützung ist willkommen – sowohl wirtschaftlich als auch in Fragen der nationalen Sicherheit. Allerdings immer unter dem Vorzeichen der Wahrung nationaler Souveränität. Es geht also nicht darum, exekutive Verantwortung in die Hände von ausländischen Truppen oder Beratern zu legen. Internationale Unterstützung soll vielmehr befähigen und ertüchtigen, damit die Nationen in Afrika beziehungsweise im Sahel ihr Schicksal selber in die Hand nehmen können.
- Sechstens: Gerade weil Deutschland diese Souveränität achtet und seine Unterstützung in den Dienst von Ertüchtigung und Befähigung der Menschen vor Ort stellt – also Hilfe zur Selbsthilfe - sind wir unverändert ein willkommener Partner. Und zwar nicht nur bei den Regierenden, sondern genauso in der Zivilgesellschaft. Auch jene Kräfte, die den Militärregierungen kritisch gegenüberstehen, haben mich gebeten, die militärische Unterstützung fortzusetzen!
Diese Botschaften habe ich sowohl in Mali als auch in Niger klar und deutlich vernommen! Und ich denke, mit diesem Befund können wir arbeiten, denn er entspricht unserer Interessenlage:
- Auch wir haben ein vitales Interesse an einem stabilen, wirtschaftlich prosperierenden Sahel!
- Auch wir wollen verhindern, dass terroristische Organisationen Fuß fassen, Menschen drangsalieren und Raumkontrolle gewinnen.
- Auch wir wollen, dass die Menschen in würdigen und sicheren Verhältnissen leben und keinen Anlass haben, ihre Heimat Richtung Europa zu verlassen.
Und natürlich halten wir daran fest, dass eine Demokratie, die die Menschen am politischen Leben partizipieren lässt und wo die Regierenden von Parlament und freien Medien kontrolliert werden, mittel- und langfristig zu einer besseren Regierungsführung führt als Autokratien.
Aber das darf nicht dazu führen, dass wir demokratische Verhältnisse zu einer Voraussetzung unseres Engagements machen. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Unsere Beiträge zu Sicherheit und Stabilität – und zu wirtschaftlicher Entwicklung sollen dazu beitragen, dass Menschen in Würde leben und sich soziale Teilhabe und politische Partizipation mittelfristig durchsetzen.
Was bedeutet das für unser Engagement? Auch hier komme ich auf sechs Punkte:
- Erstens: Wir müssen unser Engagement strategisch anlegen – also: keine Politik des reflexartigen rein, raus, rein und wieder raus, sondern eine Politik des langen Atems. Ja, die Regierenden gefallen uns nicht immer und mögen unseren Maßstäben an Legitimität nicht immer gerecht werden. Gravierende Menschenrechtsverletzungen müssen wir offen und deutlich ansprechen. Aber das darf uns nicht jedes Mal von der strategischen Ausrichtung unserer Politik abbringen! Sind Brücken erstmal abgebrochen, wird ihr Wiederaufbau mühsam.
- Zweitens: Wir wollen im multilateralen Rahmen zusammenarbeiten – im Sahel waren das in den vergangenen Jahrzehnten die Europäische Union und die Vereinten Nationen. Wenn dieser Rahmen aber nicht mehr gegeben ist – und da sind wir jetzt – müssen wir uns auch bilateral engagieren. In enger Abstimmung mit anderen Nationen, die ebenfalls engagiert bleiben. Auch im Verständnis, dass wir damit eine Brücke bauen in die Zeit, in der internationale Organisationen wieder Fuß fassen. Und dass wir unsere bilateralen Kanäle nutzen, um etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EUEuropäische Union-Polizeimission EUCAPEU Capacity Building Mission Sahel sicher aus dem Niger ausreisen zu lassen. Ich bin froh das genau dies am Wochenende möglich wurde.
- Drittens: Wir haben über viele Jahrzehnte ein beeindruckendes Instrumentarium der bilateralen militärischen Unterstützung geschaffen: Ausbildungshilfe, Ausstattungshilfe – einschließlich der Entsendung von Beratergruppen - Ertüchtigung, Mobile Trainingsteams, Bilaterale Jahresprogramme, bis hin zur Entsendung von Militärberatern in die jeweiligen Verteidigungsministerien.
Diese Instrumente genießen in den Empfängerländern einen ausgezeichneten Ruf – was ich spätestens dann merke, wenn wir aus Kapazitätsgründen und weil die eigentliche Aufgabe erfüllt ist, ein Programm beenden müssen und die betroffenen Länder sich mit allen Mitteln für die Fortsetzung einsetzen.
Deshalb möchte ich diese Gelegenheit nutzen, den vielen Soldatinnen und Soldaten, den Expertinnen und Experten, die diese Beratungsaufgaben seit Jahrzehnten mit großer Professionalität und beeindruckendem Herzblut leisten, herzlich zu danken!
Gleichzeitig müssen wir – weil diese Instrumente so erfolgreich sind – unsere Kapazitäten erweitern. Länder, die mit uns auf Augenhöhe zusammenarbeiten wollen, in denen die Rahmenbedingungen stimmen und wo wir durch unsere Unterstützung auch unsere eigenen Sicherheitsinteressen adressieren, dürfen wir nicht vor den Kopf stoßen – auch wenn wir dafür mehr Geld in die Hand nehmen müssen! Denn auch hier gilt: Nur dort wo wir weiter aktiv und präsent sind, können wir auch Einfluss nehmen. Auch auf gute Regierungsführung und demokratische Entwicklung. - Viertens: African Ownership! Oder mit den Worten des berühmten ghanaischen Ökonom George Ayittey: Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme! Damit meine ich zum einen, dass wir uns mit unseren Maßnahmen stets in einer vornehmlich unterstützenden Rolle gegenüber den souveränen Staaten der Region verstehen. Zum anderen geht es mir darum, Afrika auch zu kollektivem Handeln zu befähigen, wenn in Krisensituationen der Einsatz externer Stabilisierungskräfte erforderlich ist.
Deshalb unterstützen Deutschland und die Europäische Union die Afrikanische Union oder auch ECOWASEconomic Community of West African States – sowohl als Institutionen als auch im Rahmen der Ertüchtigung der Stand-by Forces der Mitgliedstaaten – etwa in Ghana, Benin oder im Senegal.
Mehr Multilateralismus wird dem Afrikanischen Kontinent auf jeden Fall helfen, sich international mehr Gehör zu verschaffen! - Fünftens: Ich kann nicht neben meiner Kollegin Schulze hier stehen, ohne etwas zum vernetzten Ansatz zu sagen. Aber ich tue es auch aus innerer Überzeugung: Für die Herausforderungen gerade in der Sahel-Region gibt es keine isolierten militärischen Lösungen. Wer Kriminalität, Extremismus und Terrorismus an der Wurzel packen und den Nährboden austrocknen will, muss die sozioökonomische Lage der Menschen verbessern. Das ist ein großes Betätigungsfeld für unsere Entwicklungszusammenarbeit – und gleichzeitig für die militärische Unterstützung. Denn häufig können die wirtschaftlichen Maßnahmen nicht greifen, weil das Umfeld unsicher ist. Mit anderen Worten: wirtschaftliche Unterstützung einerseits und der Aufbau eines effektiven Sicherheitssektors sind häufig zwei Seiten derselben Medaille und müssen deshalb zusammen adressiert werden.
Und es ist gerade dieser vernetzte Ansatz, der unserer Politik das nötige Gewicht verleiht. - Sechstens: Russland hat seine Position im Sahel in den vergangenen Jahren stark ausgebaut. Ich erspare uns eine genaue Analyse darüber, wie es dazu kam. Mich interessiert vielmehr das Ergebnis für die Menschen vor Ort. Und das ist ernüchternd. Dort, wo russische Truppen eingesetzt werden, hat sich die Sicherheitslage empfindlich verschlechtert. Das hat zum einen damit zu tun, dass Russland in der Terrorbekämpfung erfahrungsgemäß wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nimmt – und damit immer neue Märtyrer schafft. Zum anderen fehlt Russland mangels entwicklungspolitischer Instrumente der vernetzte Ansatz, der den Nährboden des Terrorismus überhaupt erst in den Blick nimmt.
Insofern sehe ich uns im Sahel auch nicht in Konkurrenz zu Russland. Wohl aber sehe ich die Gefahr, dass wir durch reflexartige Suspendierung unserer gesamten Zusammenarbeit als Reaktion auf nicht-verfassungsgemäße Regierungswechsel die betroffenen Staaten mutwillig in die Arme Russlands treiben. Das haben die Menschen in diesen Ländern nicht verdient!
Gleichzeitig schaden wir unseren eigenen Interessen an nachhaltiger Sicherheit und Stabilität im Sahel! Und wir überlassen das Feld in Afrika einer autokratischen Macht, die einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen ihren Nachbarn mitten in Europa führt. Das können wir nicht wollen! Umso wichtiger bleibt die strategische Ausrichtung unseres Engagements im Sahel, der lange Atem – unabhängig von Unwägbarkeiten, mit denen wir – gerade im Sahel - immer wieder zu rechnen haben.
Mir geht es um einen ebenso strategischen wie ganzheitlichen Ansatz für die Region – ein Ansatz, der von den Betroffenen vor Ort nicht nur mitgetragen, sondern mitgestaltet wird. Wir brauchen Beziehungen auf Augenhöhe – ohne dass wir unsere eigenen Interessen, Werte und Prinzipien aus den Augen verlieren.
Die Situation im Sahel ändert sich ständig. Die Interessen der Menschen vor Ort, unsere eigenen Interessen in der Region – und vor allem unser gemeinsames Interesse an Sicherheit und Stabilität - ändern sich nicht.
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