Die Wiedervereinigung Deutschlands bedeutet das Ende der NVA. Was am 3. Oktober 1990 von ihr bleibt ist das personelle und materielle Erbe sowie die Infrastruktur einer Streitmacht, die sich als Gegner und Klassenfeind der Bundeswehr sah. Die Auflösung der NVA-Verbände und die Aufstellung von Truppenteilen der gesamtdeutschen Armee ist Aufgabe des Bundeswehrkommandos Ost.
Erstmals in der Geschichte der Bundeswehr übernimmt mit Generalleutnant Jörg Schönbohm ein Offizier den Oberbefehl über Truppenteile und Dienststellen der drei Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine. In einer zeitlich befristeten Struktur soll innerhalb weniger Monate der Grundstein für den Aufbau der Bundeswehr in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und Berlin gelegt werden.
Das Bundeswehrkommando Ost steht vor einer gewaltigen und nie dagewesenen Herausforderung. Die Entscheidung über die militärischen Strukturen im vereinten Deutschland fällt darüber hinaus sehr spät. Der DDR-Minister für Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, geht noch im Sommer 1990 davon aus, dass für eine gewisse Zeit mit Bundeswehr und NVA zwei Armeen nebeneinander fortbestehen werden.
Das Ende der ostdeutschen Streitkräfte zeichnet sich ab, als Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg „Ein Staat - eine Armee!“ fordert. Endgültige Klarheit bringt der am 31. August unterzeichnete Einigungsvertrag über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Aktive Soldaten der NVA werden zunächst vorläufig und später zwecks Auswahl für zwei Jahre übernommen, Grundwehrdienstleistende behalten ihren Status.
In den Schubladen der westdeutschen Militärs liegen aber keine fertigen Pläne. Die Frage lautet, wie mit einer über Nacht aufgelösten Armee umzugehen ist. Das Bonner Bundesministerium der Verteidigung (BMVgBundesministerium der Verteidigung) schickt zunächst Mitte August eine militärische und eine zivile Verbindungsgruppe in das Strausberger Ministerium Eppelmanns.
Zur selben Zeit eröffnet Stoltenberg dem späteren Heeresinspekteur Schönbohm, dass er ihn zum Befehlshaber des aufzustellenden Bundeswehrkommandos Ost machen will. Der Generalleutnant erinnert sich: „Obwohl ich ahnte, welche Schwierigkeiten auf mich zukommen würden, gab ich meine Zusage.“ Schönbohm weiter: „Herr Minister, ich übernehme diese Aufgabe mit heißem Herzen und kaltem Verstand.“
Er übernimmt das Kommando in Strausberg am 30. August. Damit kehrt er in seine Heimat zurück. Der 1937 in der Mark Brandenburg geborene Offizier freut sich sehr darüber, ist sich aber auch seiner Verantwortung bewusst: „Ich war jetzt dafür verantwortlich geworden, dass das von uns entwickelte Konzept zur Auflösung der NVA in die Tat umgesetzt wurde…“
Schönbohm weiß, dass er einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau gemeinsamer deutscher Streitkräfte leisten kann und nicht versagen darf. Es gibt zwar grundsätzliche Entscheidungen des Bonner Verteidigungsministers, doch deren Umsetzung wird angesichts des großen Zeitdrucks und vieler Unwägbarkeiten viel Improvisation erfordern, das Handeln oft ins Ungewisse hinein erfolgen müssen.
Die Aufgaben des Bundeswehrkommandos Ost sind in einer ministeriellen Weisung festgelegt. Mit Übernahme der Befehls-und Kommandogewalt des Bundesministers der Verteidigung am 3.Oktober 1990 werden ihm „sämtliche Truppenteile, Dienststellen und Einrichtungen der ehemaligen Streitkräfte des beigetretenen Teil Deutschlands in jeder Hinsicht unterstellt.“
Das Bundeswehrkommando Ost soll die wesentlichen Führungs-, Überleitungs- und Abwicklungsaufgaben zentral wahrnehmen. Es muss die Truppenteile und Dienststellen auflösen, die nicht der angestrebten Bundeswehrstruktur entsprechen sowie die riesigen Materialbestände für eine eventuelle Weiterverwendung oder die Abgabe an Verbündete übernehmen. Darüber hinaus soll der Abzug sowjetischer Truppen unterstützt werden.
„Dabei galt es vor allem, während des Übergangs…die Gefahr eines Chaos zu verhindern“, schreibt Schönbohm in seinem 1992 erschienen Buch „Zwei Armeen und ein Vaterland“. „Ich befürchtete, dass sich Disziplinlosigkeit ausbreiten könnte, dass ganze Truppenteile auseinanderbrechen und Waffen und Munition nicht mehr hinreichend geschützt werden könnten.“
„Deshalb vertrat ich die Auffassung“, so der Generalleutnant, „dass wir versuchen müssten, genügend Angehörige der NVA zur Mitarbeit für die geordnete Auflösung…und den Aufbau der neuen Truppenteile zu gewinnen.“ Sich dieser Herausforderungen bewusst trifft der Befehlshaber am 2. Oktober, dem letzten Tag der Nationalen Volksarme, im Strausberger Ministerium für Abrüstung und Verteidigung ein.
Bei einer kleinen Feier um Mitternacht tragen die Beteiligten Zivil. Schönbohm berichtet von einer gespannten, fast beklemmenden Atmosphäre. Eigentlich kein Wunder, denn für die NVA-Angehörigen beginnt eine ungewisse Zukunft. Generale sowie ehemalige Politoffiziere und über 55-Jährige werden nicht übernommen, Frauen sind zu dieser Zeit in der Bundeswehr nur als Zivilbedienstete oder Sanitätsoffiziere willkommen.
Offiziere, Fähnriche und Unteroffiziere werden meist in einem niedrigeren Dienstgrad in die Bundeswehr übernommen. Verstrickungen mit der Staatssicherheit führen zur Entlassung. Die Unsicherheit bei den Betroffenen ist groß und deshalb erwarten sie, dass jemand für sie da ist und sich vor sie stellt. „Durch den geringsten Fehler kannst du viel Vertrauen verspielen“, stellt Schönbohm fest.
Am 3. Oktober weht über den militärischen Liegenschaften der untergegangenen DDR die Bundesdienstflagge. Damit unterstehen weitere rund 90.000 Soldaten und 47.000 zivile Mitarbeiter in 1500 Truppenteilen und Dienststellen dem Bonner Verteidigungsminister als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt. Trugen die Volksarmisten am Vortag noch ihre gewohnte Uniform, beherrscht nun NATONorth Atlantic Treaty Organization-Oliv das Bild.
Die gebliebenen Ex-NVA-Angehörigen machen sich zusammen mit Soldaten des ehemaligen Klassenfeindes an den Aufbau der Bundeswehr im Osten. Der beginnt zunächst mit der Auflösung zahlreicher Verbände und Einrichtungen, aber zugleich steht der Aufbau neuer Truppenteile im Mittelpunkt. Viele Offiziere und Unteroffiziere scheiden in dieser Zeit freiwillig aus - andere müssen gehen. Der Weg zur Vollendung der Einheit ist steinig.
Bis Ende 1990 verlässt mit rund 24.000 Mann fast die Hälfte der übernommenen „Längerdiener“ die Bundeswehr. Liegenschaften werden geschlossen, enorme Mengen Material, darunter 10.000 Waffensysteme, erfasst und in Verdichtungslagern zusammengeführt. Auch der Aufbau der neuen Dienststellen und Verbände schreitet voran. Nach Einnahme der geplanten Struktur wird das Bundeswehrkommando Ost am 30. Juni 1991 aufgelöst.
Seine Aufgaben übernehmen die Führungsstäbe von Luftwaffe und Marine in Bonn sowie das Korps- und Territorialkommando Ost in Potsdam. Ihnen obliegt nun die Bewältigung des militärischen Erbes der DDR und die Bildung neuer Truppenteile. Trotz aller Probleme und Widrigkeiten wächst in den folgenden Jahren die „Armee der Einheit„ heran. Die Grundlagen für diese Erfolgsgeschichte hat das Bundeswehrkommando Ost unter Generalleutnant Jörg Schönbohm geschaffen.
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