20 Jahre war die Bundeswehr mit ihren Verbündeten in Afghanistan. Im Sommer endete das Engagement der NATONorth Atlantic Treaty Organization im Land. Als Impuls für eine breite Debatte ziehen am 6. Oktober im Verteidigungsministerium sicherheitspolitische Experten und Einsatzveteranen eine erste Bilanz des Einsatzes. Einige ihrer zentralen Thesen im Überblick.
Mit dem Abzug der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Truppen aus Afghanistan endete im Sommer der intensivste Auslandseinsatz in der Geschichte der Bundeswehr. 20 Jahre hatten sich die internationalen Streitkräfte dort engagiert, um die Gefahr des islamistischen Terrors zu bannen und bei der Stabilisierung des Landes zu helfen. Doch inzwischen haben die Taliban das Land binnen weniger Wochen zurückerobert und die Macht wieder übernommen. Mehr noch: Die Bundeswehr musste deutsche Staatsbürger und andere Menschen per Luftbrücke aus der afghanischen Hauptstadt Kabul in Sicherheit bringen.
Nicht nur diese Entwicklungen machen eine Rückschau auf das deutsche Engagement in Afghanistan notwendig. Die Veranstaltung im Verteidigungsministerium soll dazu beitragen, zukünftige Auslandseinsätze erfolgreicher zu gestalten. Geklärt werden soll auch, wie der Einsatz am Hindukusch die Bundeswehr und Deutschland verändert hat und ob der ,,Vernetzte Ansatz'' zur nachhaltigen Konfliktbewältigung geeignet ist. Einige Teilnehmende haben ihre Thesen bereits jetzt zur Verfügung gestellt.
Der Einsatz sei nicht nur notwendig, sondern in mehrfacher Hinsicht erfolgreich gewesen, sagt Oberstabsfeldwebel Oliver Wendel. „Erstens waren wir gezwungen, die infanteristische Ausbildung schnell an den Kampf gegen irreguläre Kräfte anzupassen und zu verbessern. Zweitens haben wir 20 Jahre dazu beigetragen, dass den Menschen vor Ort ein erstrebenswertes Leben ermöglicht wurde. Zudem ist es uns gelungen, die terroristischen Strukturen soweit zu zerschlagen, dass wir keine weiteren Anschläge in einem Ausmaß wie 9/11 ertragen mussten“, so Wendel, der als Fallschirmjäger in Afghanistan diente. Für künftige Einsätze erwarte er aber von der Politik, dass die Bedrohungslage offen kommuniziert und die Soldatinnen und Soldaten so ausgestattet würden, dass sie bestmöglich geschützt seien.
,,Es schlagen zurzeit zwei Herzen in meiner Brust: die Freude über die erfolgreich beendete, geordnete Rückverlegung zum Ende der Mission Resolute Support und die Enttäuschung über die widerstandslose, rasend schnelle Übernahme der Macht durch die Taliban in Kabul“, so Brigadegeneral Ansgar Meyer. Er war der letzte Kontingentführer des deutschen Einsatzkontingentes in Afghanistan und führt nun das Kommando Spezialkräfte. Nötig seien eine ehrliche politische Bewertung und eine Analyse des militärischen Beitrages der Bundeswehr, so Meyer. „Die Ergebnisse und Folgerungen dieser Beurteilung müssen das Maß für künftige Einsätze bestimmen.''
Ähnlich sieht es Brigadegeneral Jens Arlt, der die Evakuierungsoperation der Bundeswehr geleitet hatte. Er wurde für seine Leistungen mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet. Mit dem Ende der Evakuierung sei ein Schlussstrich unter den Afghanistaneinsatz gezogen worden, so Arlt. Nun stelle sich die Frage, wie es weitergehe. „Für künftige Auslandseinsätze wünsche ich mir breite politische Unterstützung und klar definierte Zielsetzungen“, so der Kommandeur der Luftlandebrigade 1.
„Die Bundesregierung muss ein überzeugendes Konzept haben, was sie mit den Missionen im Einsatzland erreichen will“, ergänzt Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. Die Bundeswehr sei in Afghanistan erwachsen geworden, auf strategischer Ebene sei die ISAFInternational Security Assistance Force-Mission aber eine „mission impossible“ gewesen. „Out-of-area-Operationen aus außenpolitischen Gründen zu beschließen und deren Ausführung aber vor allem nach einer innenpolitischen Logik zu gestalten, wird weiterhin zum strategischen Scheitern führen“, ist Neitzel überzeugt.
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei fällte ein ähnlich harsches Urteil. „Der teuerste opferreichste Kriseneinsatz der – vor allem westlichen – Staatengemeinschaft verfehlte zentrale strategische Ziele“, so der frühere Parlamentarier. Der Abbruch des Einsatzes sei „der Gipfel an internationaler Verantwortungslosigkeit“ gewesen, so Nachtwei. „Knackpunkt unseres Scheiterns war ein kollektives politisches Führungsversagen in vielen Hauptstädten.“ Nun bestehe die Gefahr, dass die in Afghanistan erzielten Teilerfolge rückgängig gemacht würden. In künftigen Einsätze müsse auf eine „konsequente Wirkungsorientierung“ mit klaren politisch-militärischen Aufträgen sowie auf ausreichende zivile und militärische Fähigkeiten geachtet werden.
59 Bundeswehrsoldaten starben in Afghanistan, viele mehr wurden während des Einsatzes traumatisiert. Die Folgen für Familien und Gesellschaft beschäftigen Generalarzt Ralf Hoffmann, PTBS-Beauftragter des Verteidigungsministeriums. „Die Versorgung, Behandlung und Betreuung sowie die Rehabilitation und Reintegration der Einsatzgeschädigten muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden.“ Einsatzziele müssten klar definiert und die nötigen Mittel zur Erreichung dieser Ziele bereitgestellt werden, so Hoffmann. „Das Parlament als Auftraggeber der Einsätze steht hier zwingend in der Verantwortung, der Gesellschaft nachvollziehbar und transparent den Sinn und Zweck des jeweiligen Einsatzes verständlich zu machen.“
Von einer „Bilanz mit Licht und Schatten“ spricht Generalleutnant a. D. Rainer Glatz. „Insgesamt lässt sich feststellen, dass mindestens eine Generation junger Afghanen in relativer Freiheit und mit der Erfahrung von Grund-, Menschen-, und Frauenrechten aufgewachsen ist“, so der ehemalige Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr. „Das große Scheitern der UNUnited Nations-Staatengemeinschaft lag nicht an den entsandten Soldaten, Polizisten, Diplomaten und Entwicklungsexperten.“ Eine offene und ehrliche Evaluation des Einsatzes – auch bezüglich des Handelns auf politisch-strategischer Ebene – sei unerlässlich. Für künftige Einsätze gelte, sich das „Risiko des Scheiterns“ bewusst zu machen und bereit zu sein, einen Auftrag anzupassen oder einen Einsatz im schlimmsten Fall auch abzubrechen.
Die Zukunft Afghanistans werde nun wieder von regionalen Akteuren und Dynamiken bestimmt werden, sagt Dr. Ellinor Zeino, die das Auslandsbüro Afghanistan der Konrad-Adenauer-Stiftung leitet. „Die Nation-building-Komponente des Bundeswehreinsatzes unterlag strukturellen Schwächen und blieb hinter ihren ehrgeizigen Zielen und Erwartungen zurück. Unter den Reformpartnern der internationalen Geber waren liberale Diaspora-Eliten überdurchschnittlich vertreten, während konservativ-religiöse Mehrheitsgesellschaften weitgehend ausgeklammert wurden.“ Dies habe die gesellschaftliche Verankerung westlicher Werte erschwert. „Zukünftige Bundeswehreinsätze sollten fortlaufend an den lokalen Realitäten ausgerichtet sein und klare Ziele gegenüber der Bundeswehr, den Bündnispartnern und dem Einsatzland kommunizieren.“
Der „Vernetzte Ansatz“ – eine Kombination militärischer, politischer und wirtschaftlicher Maßnahmen, um den Boden für eine widerstandsfähige demokratische Gesellschaft zu bereiten – habe aber weiter seine Berechtigung, sagt Claudia Warning vom Entwicklungsministerium. „Wir haben gemeinsam viel in den 20 Jahren in Afghanistan gelernt. Militärische Ertüchtigung kann nicht gute Regierungsführung, Integrität und Achtung der Menschenrechte ersetzen – und der Impuls für diese Werte muss aus dem Partnerland kommen, wenn unser Engagement längerfristig Erfolg haben soll“, sagt die Abteilungsleiterin, die auch für Afghanistan zuständig ist. Wichtig seien zudem „ein klares Mandat für alle Akteure, besseres Verständnis für den Kontext, realistische Ziele und eine abgestimmte Exitstrategie.“
Insgesamt sind zum Auftakt der Bilanzdebatte mehr als ein Dutzend Expertinnen und Experten geladen. Wie sie das Engagement in Afghanistan bewerten und welche Schlüsse sie daraus ziehen, können Interessierte am 6. Oktober ab 11 Uhr via Web im Livestream verfolgen. Unter dem Hashtag #2001Afghanistan2021 können sich die Zuschauerinnen und Zuschauer in den sozialen Netzwerken an der Debatte beteiligen.
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